Rechtsextreme im antifaschistischen Staat

■ In der DDR ist man angesichts der wachsenden rechtsextremen Aktivitäten weitgehend hilflos

Seit Wochen berichten die DDR-Medien von rechtsradikalen Schmierereien, von antisemitischen und antisowjetischen Parolen, von Übergriffen auf Ausländer. Was von den einen als offenkundiger Beleg dafür gewertet wird, daß mit der Öffnung der Grenzen ein Großimport rechtsextremistischer Ideologien eingesetzt hat, wird von anderen als Wahlkampagne der SED-PDS gesehen. Seit die Rechtsradikalen aus der Bundesrepublik - allen voran die „Republikaner“ - massenhaft Flugblätter und Plakate auf Demonstrationen verteilen, steigen jedenfalls die Ängste. Die Debatte wird emotional geführt, aber was ihr fehlt, sind konkrete Zahlen und Differenzierungen.

Neonazis - die gab es bis zur Novemberrevolution im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat nicht. Wenigstens offiziell nicht. Nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, wurden rechtsradikale Umtriebe konsequent unter den Teppich gekehrt. Übergriffe von rechtsradikalen Skinheads, von „Nazi-Punks“ und „Faschos“ gab es in der jüngeren DDR-Vergangenheit ebenso wie in Westdeutschland, besonders am Rande von Fußballspielen.

Tätliche Angriffe gegen Ausländer und Andersdenkende wurden ebenso wie Sachbeschädigungen, zwar strafrechtlich verfolgt, aber regelmäßig ihres politischen Hintergrundes entkleidet. Verurteilt wurde nach Paragraph 215 des DDR -Strafgesetzbuches, mit dem die Gerichte die überwiegend jugendlichen Angeklagten wegen „Rowdytums“ oder wegen „öffentlicher Herabsetzung der DDR“ zu oft mehrjährigen Haftstrafen verurteilten. Der auch existierende Straftatbestand der „faschistischen Propaganda“ wurde in der DDR, die von der Parteiführung in der Verfassung auf den Antifaschismus eingeschworen wurde, nicht herangezogen, selbst wenn die Beschuldigten den Hitlergruß verwendet hatten. Statistisches Material zu diesen Gerichtsverfahren gibt es so gut wie keines.

Geschönte Zahlen

Die Zahl der Rechtsradikalen in der DDR wird vom Generalstaatsanwalt in Ost-Berlin mit etwa 1.100 Personen angeben. Sie wurden als Täter oder Tatbeteiligte erfaßt. Die Zahl dürfte mit Sicherheit zu niedrig angesetzt sein, bedeutet sie doch, daß auf jeden der fünfzehn DDR-Bezirke im Durchschnitt nur ungefähr 70 Rechtsextremisten kämen. Antifa -Gruppen, die in der letzten drei Monaten in der ganzen DDR wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, sprechen dagegen allein für den Ostberliner Stadtteil Mahrzahn von 800 Anhängern der „Republikaner“ und von 200 weiteren im Stadtteil Hellersdorf.

Dreihundert neue Ermittlungsverfahren

44 Ermittlungsverfahren mit rechtsextremistischem Hintergrund sind nach den Worten eines Sprechers des aufgelösten Ministeriums für Staatssicherheit im Jahr 1988 eingeleitet worden. Nach einer Auflistung vom November letzten Jahres stieg die Zahl im letzten Jahr dann sprunghaft auf 144. Zählt man die bei der Kriminalpolizei bekannten Verfahren dazu, gab es in der DDR 1989 insgesamt etwa dreihundert Ermittlungsverfahren.

„Eine sachliche und politische Auseinandersetzung mit dieser Erscheinung hat es nicht gegeben“, klagt der Kriminologe Rainer Gelbhaar von der Humboldt-Universität. Auf einer Veranstaltung des Urania-Vortragszentrum zu „Neofaschismus in der DDR“ erklärte der Professor Anfang dieser Woche, erste deutliche neofaschistische Tendenzen seien bereits vor zehn Jahren zu beobachten gewesen, aber: „Wo der Faschismus in den letzten drei bis vier Jahren sein Haupt erhob, hat immer nur die Repression eingesetzt.“ Arbeitsgruppen an den Universitäten oder in den Dienststellen der Kriminalpolizei sei die Beschäftigung mit dem Phänomen im gleichen Atemzug untersagt worden.

Den nun sichtbaren Rechtsradikalismus in der DDR zum Import aus der Bundesrepublik zu erklären greift für Professor Gelbhaar zu kurz. Rechtsextremistische Bewegungen seien in den letzten Jahren schließlich auch in allen westeuropäischen Ländern sowie in Ungarn, der CSSR und der Sowjetunion zu verfolgen. So wie in der DDR gibt es dort rechtsradikale Skinheads, gewaltbereite Fußballfans („Hooligans“) und Gruppen, die einen extremen Nationalismus verfolgen. in der DDR gebe es zwar „keine landesweite und feste Organisation“. In den Städten und Gemeinden verfügten die verschiedenen Gruppierungen aber nicht nur über einen gemeinsamen programmatischen Ausgangspunkt, sondern auch über Strukturen, um miteinander zu kommunizieren.

Der Soziologe Ray Kokoschka, ebenfalls von der Humboldt -Universität, sieht in den Erklärungen eines „importierten“ Rechtsradikalismus weiter die Gefahr, daß man „den Problemen noch Vorschub leistet“. Erst einmal brauche man eine gründliche Analyse des hausgemachten Problems.

Der Beginn:

Eine Protestbewegung

Die Geschichte des Rechtsradikalismus liest sich nach Auffassung der Wissenschaftler etwa so: Aus Protest gegen die Lüge von der Wunderwelt des real existierenden Sozialismus bildeten sich in der DDR-Gesellschaft zu Anfang der achtziger Jahre vielfältige jugendliche Subkulturen von Aussteigern - von Fußballfans über Punks und Grufties bis hin zu Skinheads.

Der Einstieg in diese „Freizeitgruppen“ erfolgte oftmals als reines Protestverhalten. Die Äußerlichkeiten waren beispielsweise ein extrem kurzer Haarschnitt oder das Tragen bestimter Kleidungsstücke wie Bomberjacke oder Schnürstiefel. Den Ausstieg aus dem sozialistischen Zwangsalltag begleitete zudem eine besonders ausgeprägte Oppositionshaltung.

Da die gesellschaftlich akzeptierten Werte in der DDR zunehmend verfielen und parallel der Anpassungsdruck stieg, kam es Mitte der 80er Jahre zu einer ersten Eskalation der rechtsextremen Szene. In diese Zeit fallen auch die Beobachtungen der Wissenschaftler, daß Hitlers Mein Kampf in einigen Jugendkreisen offenbar genau studiert wurde. Im Zusammenhang mit Ermittlungsverfahren wurden Exemplare sichergestellt, in denen die Anmerkungen am Textrand auf eine lebhafte Diskussion in der rechten Szene schließen ließen.

Die Beschäftigung mit rechtsradikalen Theorien, gepaart mit gruppendynamischen Prozessen, urteilt Soziologe Kokoschka, hätten in diesen Gruppen die latenten und typischen Mommente wie Haß auf Ausländer, Homosexuelle und Kommunisten drastisch forciert. Verhaltensnormen, Ziele und Werte wurden im weiteren Verlauf für die einzelnen Mitglieder immer verbindlicher. Was als Freizeitgruppe begann, endete als hierarchisch straff geführter Verband.

Wo sich die Einstellungen in den Gruppen verfestigt haben, sehen die Wissenschaftler nur wenig Chancen, auf die einzelnen noch Einfluß zu nehmen. In einer demokratisch runderneuerten DDR müsse vielmehr diesen schon etablierten Gruppen ein „politisches System entgegengestellt werden, das sie unter Kontrolle hält“. Eine Zunahme der rechten Zirkel könne nur dadurch verhindert werden, daß diesen Gruppen künftig der Nachwuchs abgeschnitten werde. Nur demokratische Strukturen und eine offene Auseinandersetzung könnten die Jugendlichen „immunisieren“. Der „nationalistische Knall“, der jetzt über die DDR hinwegdonnert, ist die Quittung dafür, daß sich unter der Einheitssozialisten der SED die „nationale Identität eines DDR-Bürgers nach 1945 gar nicht erst entwickeln konnte“. Die Frage ist allerdings, ob die Übernahme des bundesrepublikanischen Institutionen- und Parteiensystems, wie sie sich in der DDR abzuzeichnen beginnt, ein wirksames Gegengift zum Rechtsradikalismus sein wird.

Wolfgang Gast