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Verwaltete Musik in der verwalteten Welt

■ Der Musik-Almanach des Deutschen Musikrates

Das Musikleben in der Bundesrepublik besitzt beachtliche Dimensionen. Welches Volumen die Märkte haben, wie der Betrieb organisiert ist, wohin man sich mit den verschiedensten Anliegen in Sachen Musik wenden kann - das alles verrät der neue Musik-Almanach des Deutschen Musikrates. Unter mehr als 6.000 Stichwörtern gibt der Dachverband der musikalischen Vereine, Verbände und Institutionen eine Fülle von Informationen über die für die musikalischen Fragen (und die Finanzierung) zuständigen Behörden, über die öffentliche und private Förderung, das Konzertwesen und das Laienmusizieren, die verschiedenartigsten Ausbildungsstätten und die einzelnen Sektoren der Musikwirtschaft, über die Publikationsorgane und die Musikabteilungen der Rundfunk- und Fernsehanstalten. Dieser zweite Almanach weist gegenüber dem vor vier Jahren erschienenen erhebliche Präzisierungen auf und schreibt fort, aktualisiert. Der Wälzer dürfte für alle, die professionell zwischen Jazzhaus und Philharmonie, Musikschule und Opernhaus agieren, erheblichen Gebrauchswert gewinnen. Doch nicht nur für sie. Wer sich aus- oder fortbilden will, für Hilfsfonds und Sozialeinrichtungen der Künstler interessiert, Wettbewerbsbedingungen oder Festspieladressen wissen möchte, der ist gut beraten, sich in diesem Nachschlagewerk umzusehen. Es protzt mit Details und ermöglicht zugleich einen Überblick über all das, was den Musikbetrieb im Inneren zusammenhält, belebt und vorwärtstreibt.

Das Werk richtet sich nicht nur (und nicht einmal in erster Linie) an die Endverbraucher. Es beansprucht, in einer Zeit, in der kulturpolitische Maßnahmen nicht mehr allein aus persönlicher Erfahrung abgeleitet werden können, eine Hilfestellung für die Politik auf allen Ebenen: Klare Zielsetzungen und Entscheidungen sind nur mit Hilfe von Daten, Fakten und Zahlen möglich. Freilich wäre es fatal, wenn der kulturpolitische Wille sich allein aus Zahlen und Daten rekrutierte. Die Neugier gegenüber Neuem entspringt nicht der Lektüre von Bilanzen und Tabellen. Nicht einmal Kommunalpolitiker, die über den Theateretat und die Finanzierung von Konzertreihen mitentscheiden, sollten sich vom Zauber der Zahlen, den Fiktionen der Fakten und dem Druck der Daten abhängig machen. Sie dürfen, bei allem Respekt vor der Logik der Verwaltungsstrukturen und den Sachzwängen des institutionalisierten Kulturlebens, auch jenseits der kontrollierten Kanäle ein emphatisches Verhältnis zur Sache selbst entwickeln und sie nach Kräften fördern.

Rund neun Milliarden Mark geben die „öffentlichen Hände“ derzeit im Jahr für alle kulturellen Aufgaben aus - knapp 2,5 Milliarden für die musikalischen Belange. Das sind 0,25 Prozent der öffentlichen Haushalte (ein Promille des Bruttosozialprodukts). Gut die Hälfte der Kosten tragen die Kommunen.

Erfaßt aber werden von den diversen Organisationen des Musikbetriebs knapp eine halbe Million Laienmusikanten und weit mehr als eine Million aktiver Sänger. Rechnet man alle fördernden Mitglieder, die von Musikunterricht bestrichenen Schüler und sämtliche Profis des Musiksektors zusammen, so ergibt sich für die Bundesrepublik die stolze Zahl von sieben Millionen Musikfreunden (und Beschäftigten in diesem Kultur- und Freizeitsektor). Der ist in einer Weise durchorganisiert, daß einem fast die Augen übergehen und die Ohren sausen - der Betätigungs- und Organisationsdrang scheint kaum mehr eine Grenze zu kennen. Das Spektrum reicht von der Deutschen Jazz-Föderation bis zur Franz-Liszt -Gesellschaft (80 Mitglieder), von der Gesellschaft für Volkstanz e.V. bis zum Club der Drehorgelfreunde, von der Deutschen Disc-Jockey-Organisation (500 Teilhaber) bis zur Motivgruppe Musik e.V. im Bund Deutscher Philatelisten (300 Sammler aus 25 Ländern), von der Orplid-Gesellschaft (mit zwölf ordentlichen Mitgliedern) bis zum Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie (480 Mitgliedsfirmen). Das reicht vom Flötenhof in 8939 Markt Wald bis zum Tuba-Forum in Hannover; von den Philharmonikern in Berlin bis zu denen in Bad Reichenhall, Hagen oder Reutlingen; vom Gebirgsmusikkorps8 in Garmisch bis zur Otto-Jägermeister -Gedächtnisstiftung in Manderscheid. Hunderte von Wettbewerben, Preisen, Stipendien, Auszeichnungen; Förderprojekte und Festivals; Ökumene und Polizeimusikkorps

-alles macht sich mit und um die Musik verdient. Für stolze 650 Millionen Mark werden zwischen Rhein und Elbe Musikinstrumente hergestellt (beim Inlandsabsatz halten sich Im- und Exporte die Waage). 1,5 Milliarden werden allein für Platten, Kassetten und CDs ausgegeben. Selbst der Umsatz der Verwertungsrechte von Musik nähert sich der Milliardengrenze. Traumhaft für die einen, traumatisch für die anderen, die noch auf die Individualität der einzelnen künstlerischen Hervorbringung hoffen.

Daß sich der Musik-Almanach 90/91 nur mit den Quantitäten und nicht mit Qualitäten von Musik befaßt, sollte man diesem Buch nicht verargen: es ist ein Handbuch der Betreiberseite für die Ausweitung und Aktivierung des Musikmarktes und zum Nutzen der Vernetzung. Da ist es egal, ob auch aus Stroh Gold gemacht werden soll. Die Hörer sind eine ebensowenig berücksichtigte Größe wie die Künstler, die den Erfassern der Daten, Fakten etc. ganz aus dem Blickwinkel geraten sind und nur gelegentlich zu Zahlenkontingenten zusammenschrumpfen - sehr kleinen. Der Musik-Almanach ist die elaborierteste Ausgeburt der verwalteten Musik in der verwalteten Welt. Beiläufig kann seine Lektüre die Augen dafür öffnen, in wie hohem Maß die so versozialstaatlichte und vereinsmeiernde, verschulte und verbandspolitisierte Musik Ordnungsfaktor in der durch Singen, Fiedeln, Pfeifen und Beschallung ruhiggestellten Gesellschaft ist.

Frieder Reininghaus

Musik-Almanach, Bärenreiter- und G. Bosse-Verlag, 850 Seiten, 48 DM.

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