Gorbatschows Perestroika gerät unter den Druck des islamischen Fundamentalismus

■ 160.000 Soldaten der Roten Armee besetzen die aserbaidschanische Sowjetrepublik/Die iranische Führung unterstützt bisher nur verbal die aserbaidschanischen...

Die Ruhe in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, ist trügerisch. Die nach den antiarmenischen Ausschreitungen eingesetzten SowjetTruppen können keine politische Lösung des Konflikts erzwingen. Schon sind Streiks und Massenaktionen von der aserbaidschanischen Volksfront angekündigt.

Noch immer peitschen Schüsse durch Baku, die Hauptstadt von Aserbaidschan. „Unruhestifter“, wie es in der sowjetischen Presse heißt, hätten an verschiedenen Punkten der Stadt das Feuer eröffnet, die nach ersten Meldungen durch den Einmarsch sowjetischer Truppen in der Nacht zum Samstag „befriedet“ erschien. Seit Beginn des Truppeneinsatzes hatten bewaffnete aserbaidschanische Gruppen heftigen Widerstand geleistet. Nach Angaben aus Moskau sollen bisher 57, nach Berichten aus Baku mehrere tausend Opfer der Kämpfe zu beklagen sein. In einem dramatischen Appell forderte Michail Gorbatschow am Samstag die verfeindeten Völker, Armenier und Aseris, zur Zurückhaltung auf.

Nachdem weder die Führung Aserbaidschans noch die Armeniens die Stimme der Vernunft hatten hören wollen, habe Moskau handeln und zum letzten, dem militärischen Mittel greifen müssen. Nationalitätenkonflikte ließen sich nur auf einer sachlichen Ebene lösen, sagte Gorbatschow. Der Oberste Sowjet und der Ministerrat der UdSSR hätten zwei Jahre lang ihr Bestes getan, um eine friedliche Antwort auf die Konflikte zu geben. Das sei nicht gelungen, da die nationalistischen Extremisten offen staats-, verfassungs und volksfeindliche Aktionen angezettelt hätten. „Die Aufgabe der Regierung ist die Wiederherstellung der Ordnung“, erklärte Gorbatschow an die Adresse der adserbaidschanischen Nationalisten. Den Angehörigen der Toten sprach er sein Beileid aus.

Dagegen beklagten Vertreter der Volksfront den Einsatz der Soldaten, die brutal gegen rund 300.000 friedliche Demonstranten vor dem Gebäude des Zentralkomitees der aserbaidschanischen KP vorgegangen seien und eine sehr große Zahl von Menschen getötet hätten. Die aserbaidschanische Präsidentin Kafarowa verurteilte den Vorstoß der Truppen nach Baku als grobe Verletzung der Souveränität der Rupublik. Wie aus Quellen der aserbaidschanischen Volksfront gemeldet wurde, haben 100 aserbaidschanische Soldaten in der Garnison unter Führung eines Obersten offen gemeutert und die Waffen gegen andere Sowjetsoldaten erhoben. Die Volksfront werde, so einer ihrer Sprecher, nun zu einer Kampagne des bürgerlichen Ungehorsams übergehen und die Bestimmungen des Ausnahmezustands mißachten. Auch zu Streiks wird aufgerufen werden. Der alte Parteichef der Republik ist entmachtet. Am Samstag war Parteichef Abdul-Rachman Wesirow durch dessen Stellvertreter Viktor Poljanitschko und den bisherigen Regierungschef Ajas Mutaqlibow ersetzt worden.

Unterdessen proklamierte die autonome und mehrheitlich von Aserbaidschanern bewohnte Republik Nachitschewan an der Grenze zu Iran ihre „totale“ Unabhängigkeit von der Sowjetunion. In der Proklamation wird die Abspaltung der von 250.000 Menschen bewohnten Republik von Moskau ausdrücklich bekräftigt. Die Regierung in Moskau sprach von einem beispiellosen Bruch der Verfassung. Zur Begründung für den Schritt des Obersten Sowjet der autonomen Republik führte ein Mitlgied der aserbaidschanischen Volksfront an, in der Sowjetunion sei die Souveränität der Republik nicht mehr gewährleistet. Der Oberste Sowjet der Republik forderte den sortigen Abzug sowjetischer Truppen von seinem Territorium. Gleichzeitig rief das Gremium die Türkei, den Iran sowie die Vereinten Nationen dazu auf, die territoriale Integrität des Landes zu gewährleisten.

Immer mehr Aseris aus Aserbaidschan und Nachitschewan suchen Rückhalt im Iran. Radio Teheran meldete, daß trotz der Schließung der sowjetisch-iranischen Grenze durch Moskau weiterhin Bewohner aus Nachitschwewan nach Iran kämen, um an den Freitagsgebeten teilzunehmen. Tausende von Moslems seien über die aserbaidschanisch-iranische Grenze gekommen und hätten das geistliche Oberhaupt Irans, Ayatollah Ali Chamenei, hochleben lassen.

Schon mehrmals hatte die sowjetische Nachrichtenagentur 'tass‘ berichtet, aserbaidschanische Nationalisten operierten von iranischem Territorium aus und bekämen Unterstützung durch iranische Polizisten. Nach armenischen Angaben verfügten die Aserbaidschaner über moderne automatische Gewehre, die über die Türkei und den Iran eingeschmuggelt würden. Doch jetzt will die sowjetische Armee die Grenze wieder unter Kontrolle bringen. Sowjetische Soldaten wären bisher außerstande, die nationale Integrität zu schützen, hatte noch am Samstag die sowjetische Presse geklagt. „Militante aserbaidschanische Nationalisten aus dem Iran kommen zu anti-sowjetischen Aktionen über die Grenze. Es droht ein internationaler Konflikt“, meldete Radio Moskau am Sonntag morgen. Vor allem in dem Gebiet der Stadt Lenkoran, die unweit der iranischen Grenze gelegen ist und die seit zwei Wochen von der Volksfront regiert wird, sind die aserbaidschanischen Nationalisten aktiv. An mehreren Stellen waren die sowjetischen Grenzbefestigungen zum iranischen Teil Aserbaidschans auf bis zu 50 km zerstört worden, um den ungehinderten Grenzverkehr zwischen beiden Ländern herzustellen.

Vor allem der Fall der Berliner Mauer und die Diskussion um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten haben auch in beiden Teilen Aserbaidschans zu Hoffnungen geführt, die Teilung des Landes zu überwinden. Der nördliche Teil Aserbaidschans, der zur Sowjetunion gehört, und der südliche Teil, der zum Iran gehört, waren 1946/47 eine einzige Republik unter der Hegemonie der Sowjetunion. Doch unter dem Druck der Westmächte, die ebenso wie die UdSSR an den Ölquellen der Region interessiert waren, mußte der damalige sowjetische Führer Stalin nachgeben und der Teilung des Landes zustimmen. So war es auch verständlich, daß die iranische Politik zunächst keineswegs die aserbaidschanische Position unterstützte, da auch der Iran über die Vereinigungswünsche der Aserbaidschaner in innenpolitische Schwierigkeiten zu geraten schien. Seit dem Moskauer Truppeneinsatz in Aserbaidschan scheinen jedoch in Teheran die Weichen neu gestellt zu werden.

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Auf sein Jagdgewehr gelehnt, etwa 270 Meter von der hart umkämpften Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan entfernt, macht Artur Agopian seinem Herzen über die Ankunft der Sowjetarmee in Baku Luft. „Endlich sieht Moskau ein, wer der wahre Feind ist. Früher hatten sie Angst vor den Aserbaidschanern. Jetzt finden sie heraus, was wir über Jahrhunderte gewußt haben.“ Die Einwohner der Nachbarrepublik seien Fanatiker, erklärt das Mitglied der armenischen Freiwilligenarmee, die sich zum Schutz bedrohter Ortschaften formiert hat. „Sie leben immer noch im Mittelalter.“

Hier, an vorderster Front, im Schatten des Bergs Ararat, Armeniens Nationalsymbols, sind die Gefühle über die sowjetische Armee gemischt. Seit Monaten beschuldigen die Armenier die Zentralgewalt, im Territorialstreit zwischen den Republiken stillschweigend auf der Seite Bakus zu stehen und nicht die Ermordung von Armeniern in Aserbaidschan zu verhindern. Aber plötzlich erscheint das Militär in einem helleren Licht.

Die Bürger der kleinen christlichen Republik, die auf drei Seiten von der Türkei, Iran und Aserbaidschan - alle muslimisch - umschlossen ist, sehen sich selbst als die Bannerträger westlicher Zivilisation. Das Gefühl einer Belagerung herrscht besonders in dem Weinbauort Jaraschkawan nahe der sowjetischen Grenze zur Türkei, nur 30 Kilometer südlich der armenischen Hauptstadt Eriwan.

„Dies ist ein heiliger Krieg. Wir müssen unser Land verteidigen. Es stehen zehn Millionen von ihnen gegen drei Millionen von uns, aber wir haben eine stärkere Kampfmoral“, sagt Juri Sagrobian, ein Ingenieur, der eine zwölfköpfige Kampfeinheit kommandiert und stolz seine Kalaschnikow aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt.

Tausende armenischer Freiwilliger sind Jaraschkawan seit Donnerstag, als es zu einer Schießerei über die Grenzen hinweg gekommen war, zu Hilfe geeilt. Bis jetzt beklagen die Armenier fünf Tote und mindestens 18 Verletzte. Die Zahl der aserbaidschanischen Opfer ist nicht bekannt. Samstag nacht berichtete das sowjetische Fernsehen, daß ein von den Aserbaidschanern verkündeter Waffenstillstand vorerst halte und die Armee das Gebiet kontrolliere. Die Aserbaidschaner seien zu Verhandlungen auf neutralem Boden bereit.

Armenier und Aserbaidschaner sind wieder in ihre alten historischen Rollen erbitterter Feinde geschlüpft. Unfähig, den jahrhundertealten Haß zu überwinden, hat sich die sowjetische Armee in der Rolle eines Schiedsrichters eingerichtet, der darauf achtet, daß keine Seite die Oberhand gewinnt.

Die Aserbaidschaner verfügen über moderne automatische Gewehre, deren Herkunft ungeklärt ist. Nach Überzeugung der Armenier stammen sie entweder aus dem Iran oder der Türkei. Belege gibt es nicht. Die meisten armenischen Opfer wurden von Heckenschützen erschossen, die sich in Schneeanzügen am gegenüberliegenden Berghang eingegraben hatten.

Die Armenier sind vorwiegend mit Jagdgewehren ausgerüstet. Aber sie haben auch Artillerie vom Kaliber 135 Millimeter und Katjuscha-Raketen von der sowjetischen Armee „ausgeliehen“ und setzen nach Zeugenberichten Granaten ein. Außerdem gibt es einige gepanzerte Wagen und sogar einen richtigen Panzer, der allerdings so aussieht, als wenn er aus der Waffenkammer des Zweiten Weltkriegs stammt.

Das sowjetische Fernsehen berichtete Samstag nacht, daß die armenischen Kämpfer zugestimmt hätten, angesichts der stabilisierten Lage die meisten ihrer schweren Waffen dem regulären Militär zu übergeben. Die aserbaidschanischen Heckenschützen hätten ihre Stellungen aufgegeben, und inzwischen habe die sowjetische Armee die Verteidigung des Dorfes übernommen.

Der Krieg hat

erst begonnen

Seit Stunden standen sie vor dem Zk-Gebäude auf dem Lenin -Platz in Baku und protestierten gegen die Ausweitung des Ausnahmezustands auf ihre Stadt. Die aserbaidschanische Volksfront, Organisatorin der Massenveranstaltung, hatte rund 300.000 Menschen gezählt. Unruhe ergriff die Demonstranten, als erste Bestätigungen für ein umlaufendes Gerücht kamen: die Sowjetarmee ist in Baku einmarschiert.

Das Einrücken der Truppen kam nicht unerwartet. Straßensperren waren errichtet und bewaffnete Kommandotrupps wachten. Für den stellvertretenden sowjetischen Außenminister Alexander Besmertnich ist die Lage klar: die Volksfront wollte die Macht in Aserbaidschan an sich reißen. Als die Soldaten vom Stadtrand her vorrückten, wurden sie von den „Extremisten“ mit Maschinengewehren beschossen und mußten sich verteidigen. Bis zum Vormittag starben acht Soldaten und 40 Kämpfer der anderen Seite im Kugelhagel. „Glauben sie ihm nicht“, sagt ein Sprecher der Volksfront in Moskau, „allein bei der brutalen Auflösung der friedlichen Kundgebung am Lenin-Platz starben mehr.“ Er schätzt die Zahl der Todesopfer auf 3.500.

Nach den Feuergefechten in der Nacht und vereinzelten Schießereien am Morgen beherrschten die Truppen die Lage. „Die Stadt ist vollständig unter Kontrolle der Sowjetarmee“, konnte der Militärkommandant von Baku nach Moskau melden. Regierungsgebäude würden nicht mehr blockiert, das Fernsehzentrum sei geräumt. Senden wird das aserbaidschanische Fernsehen allerdings für einige Zeit nicht. „Im Gebäude hat es eine Explosion gegeben, an der Fassade sieht man Einschußlöcher, und in vielen Fenstern fehlen die Scheiben“, schildert ein Augenzeuge.

Am Nachmittag bestimmen Militärlastwagen das Bild in den Straßen Bakus. Dutzende von Soldaten stehen vor Regierungsgebäuden und Bahnhöfen, an den Kreuzungen der Hauptstraßen und auf den größten Plätzen. Es herscht Ruhe in Baku.

Unterdessen haben die Schießereien an der Grenze zu Armenien nicht nachgelassen, gibt es weiter Überfälle in den Nachbarbezirken von Berg-Karabach, wird die Stadt Lenkoran weiter von der Volksfront regiert und hat die aserbaidschanische Region Nachitschewan gar den Austritt aus der UdSSR erklärt. „Das war nur Baku“, sagt ein Mitglied der Volksfront, „Aserbaidschan werden sie nicht so schnell erobern können. Der Krieg hat erst begonnen.“

dpa