Durch das Rauhe bis nach Walle

■ Ernst-Waldau-Theater suchte elf junge StatistInnen / Die erste Gage ist die kleinste

Durch die Toilette des Ernst-Waldau-Theaters wehte ein eisiger Wind: Vor dem Waschbecken lehnte lässig Charles Bronson, rauchte wie immer einen Kugelschreiber und taxierte sich mit zusammengekniffenen Augen im Spiegel. Das er sich dabei auf die Zehenspitzen stellen mußte, werden nachher nur böse KritikerInnen behaupten. Charles wartete auf seine Freund Clint, der sich noch verzweifelt die letzten Tropfen Nervosität abquetschte. Beide sind mindestens zwei Jahre jünger als sie angeben, so um die zehn Jahre, und haben in ihrem anderen Leben die Namen Dirk und Timo: Nur gestern war das anders, denn sie wollten die Bret

ter betreten, denen nachgesagt wird, daß sie die Welt bedeuten. Und so wie sie aussahen, werden Charles und Clint sie nie mehr verlassen.

Elf Jungen und Mädchen suchte gestern nachmittag der Regisseur Rolf B. Wessels aus einer BewerberInnenschar von gut 300 Kindern zwischen vier und vierzehn aus. Für das im März anlaufende Boulevard-Stück „Das Haus in Montevideo“ sollte „nach dem Orgelpfeifenprinzip“ die vielköpfige Kinderschar eines verknöcherten Professors zusammengestellt werden. Da die Rolle der ältesten Tochter von einer Professionellen übernommen wird, mußten die StatistInnen als Gardemaß eine Körpergröße von 1,62 m im Fünf-Zentimeter -Rhythmus abwärts aufweisen. Wichtig fürs Outfit der Professorenkinder: Rotes Haar und Brille.

Im ersten Akt der Posse müssen die angehenden Jungstars dem Mann der Weisheit Rede und

Antwort stehen: Der Professor hat die Angewohnheit, Schul -und Lebensregeln seiner Kinder während des täglichen Mittagessens abzufragen: Gefordert sind dann gereimte Vierzeiler, die dem Zuhörer erklären, warum die lateinische Präposition ante immer den Akkusativ fordert, die Winkelsumme im gleichschenkligen Dreieck 180 Grad beträgt und wann die Rechtschreibung aus den Fugen gerät.

Wegen der großen Zahl der BewerberInnen ließ Wessels die Kinder nach Größe antreten: pro Aufruf erstürmten 30 bis 40 hoffnungsvoll fiebernde Kinder die Bühne, um vor den kritischen Augen des Regisseurs zu bestehen. „Wer hat schon einmal Theater gespielt“, fragte der in die Runde: ALLE reißen die Hand hoch. „Wer hat dabei schon mal einen Text gesprochen?“ ALLE reißen die Hand hoch. „Wer ist gut im Auswendig-Lernen?“ ALLE reißen die Hand hoch. Bei derartig

hohen Qualifikationen fällt die Auswahl schwer: Deshalb besetzt Wessels zunächst jede Rolle dreifach, bevor in einer Endausscheidung der Würfel fällt.

Gage gibt es natürlich auch: pro Probe fünf, pro Auftritt zehn Mchen. Für einen Rolls mit Perlmutt-Dach reicht das wohl nicht, immerhin aber für ein neues Modul im Heimcomputer. Und vielleicht sitzt im Publikum ja ein großer Hollywood-Produzent, der mit geübtem Auge das Genie im Statisten erkennt und gleich einen Vertrag bei MGM locker macht. Routine hätten die Kids dann schon: Von Freitag an wird jede Woche zweimal geprobt, insgesamt wird es dann noch zehn Vorstellungen geben.

Für viele zerschlug sich diese Hoffnung gestern Nachmittag. Sie fanden Trost bei ihren Eltern, die - man sah es ihnen an - früher auch gerne zur Bühne gegangen wären. Doch dann kamen die Kinder... ma