Rettung für die „Romantik der Unterwelt“

■ Das historische Scheunenviertel - literarischer Lieblingsschauplatz der Großstadtliteraten der Zwanziger - soll von Bürgern aus Ost und West erhalten und erneuert werden / Mit dabei in der Spandauer Vorstadt ab 17. Februar: Ex-Instandbesetzer aus West-Berlin

Den Stadtplanern des im Oktober 1989 noch stramm sozialistischen Bezirks Berlin-Mitte war das kleine Planquadrat Mulackstraße, Steinstraße, Alte Schönhausener Allee ein Greuel. Etwa 35 Häuser waren da noch übriggeblieben - verschont von Vandalismus, Kriegszerstörungen und der Zweckbauarchitektur im Plattenbaustil. Das auf die Rosenthaler Straße zielende Dreieck ist der letzte Rest des berühmt-berüchtigten Scheunenviertels, Herz der „Spandauer Vorstadt“.

Hier lebten bis zur Pogromnacht 1938 Tausende von Juden aus Galizien, Polen und Rußland. Joseph Roth hat ihr Leben in „Juden auf Wanderschaft“ beschrieben. Von den Synagogen und koscheren Garküchen in der Dragoner und Grenadierstraße sind nicht einmal die Straßennamen übriggeblieben.

„Anziehend ist das Elend nur für den, der es nicht teilen muß“, schrieb Klaus Mann 1923, „die Romantik der Unterwelt war unwiderstehlich.“ Mann und Alfred Döblin machten das Quartier östlich des Alexanderplatzes zum Erkundigungsort von Literaten und Bohemiens. Sie waren fasziniert von den „Damen, die im öffentlichen Leben stehen“, von den Kaschemmen und dem Schwarzmarkt in der Mulackstraße. Die Nationalsozialisten hatten in der Hochburg der KPD einen schweren Stand. Der vermeintliche Mörder von Horst Wessel, Ali Höhler, wurde von den Nazis zu Tode gequält - auch deshalb, weil er in dieser Straße wohnte.

Den Kommunisten des Arbeiter- und Bauernstaates lag die Spurensuche und Bewahrung der schrillen, aber auch jüdischen und antifaschistischen Tradition nicht am Herzen. Das schiefwinkelige Quartier mit den krummen Straßen und den 150 Jahre alten Häusern wurde hygienisch einwandfrei und effektiv überbaut, in die Lücken soziale Einrichtungen und moderne Einheitsbauten gesetzt. Zuletzt waren eben nur noch die rund 35 Häuser in der Mulack- und Steinstraße übrig. Auch dieser Schandfleck sollte verschwinden.

Im Oktober lag dem Magistrat ein detaillierter Bebauungsplan vor, 84,7 Millionen Mark wurden für den Abriß, Entschädigungszahlungen an Hauseigentümer, Teilmodernisierung und Neubau bewilligt. Sogar eine neue Straße sollte durch das bis dahin geschlossene Gebiet gezogen werden. In das Haus Mulackstraße 37 wurden die ersten Löcher gebohrt, im Dezember sollte es gesprengt werden. Sollte, wenn es nicht den 9. November und die Bürgerinitiative „Spandauer Vorstadt“ gegeben hätte.

Diese Bürgerinitiative erreichte noch im November einen sofortigen Abriß- und Baustopp, die bereits bewilligten Gelder wurden eingefroren. Die Bürgerinitiative hat eine Umkehr der gesichts- und geschichtslosen Einheitsarchitektur im Sinn, ihnen geht es um „Erhaltung und Erneuerung“ eines ganzen historisch gewachsenen Quartiers. Sie planen für die Mulack- und Steinstraße, aber auch für das umgrenzende Scheunenviertel, zwischen Rosenthaler, Linien-, Weinmeisterstraße und Alte Schönhausener Allee ein „gemeinsames Ost-West-Berliner Pilotprojekt für behutsame Stadterneuerung“, um, wie Sprecher Jan-Ludwig Bauditz betont, „zu zeigen, daß wir das letzte Stückchen Altstadt, was wir noch haben, erhalten können“.

Um zu retten, was zu retten ist, schlägt die Bürgerinitiative „Spandauer Vorstadt“ jetzt einen offenen städtebaulichen Wettbewerb vor, die Ausschreibung soll von Magistrat und Senat unterstützt werden. Grundlage des geplanten Wettbewerbs ist ein neuer Bebauungsplan, der im Herbst dem Magistrat vorgelegt wird. Das ehemals verkommene und später verbaute Scheunenviertel soll zu einem Musterbeispiel für den „Genossenschaftlichen Wohnungsbau“ werden.

Für die Mulack- und Steinstraße im Scheunenviertel wird es schon im Februar ernst werden. Die Bürgerinitiative „Spandauer Vorstadt“ wird auf einer „Bürgerversammlung“ fordern, daß acht noch bewohnbare Häuser in diesen beiden Straßen von einer Mieterinitiative verwaltet werden. Ursprünglich wollte die „Spandauer Vorstadt“ diese Häuser sogar für einen symbolischen Betrag von einer Mark kaufen, aber die Kommunale Wohnungsverwaltung schmetterte ihr Begehren ab. „Wir verkaufen kein Volkseigentum“, hieß es dazu. Jetzt, so lautet der neue Vorschlag, sollen die interessierten Mieter, darunter auch Gewerbetreibende, die Kosten für die Sanierung vorschießen und später abwohnen.

Wie die Kosten im einzelnen verteilt werden, das ist im Moment noch unklar. Eines aber ist klar: Soll weiterer Verfall verhindert werden, müssen die Häuser nach Potsdamer Vorbild ganz schnell gesichert, Dächer repariert und Fenster eingesetzt werden. Als Termin, zu dem auch Ex -Instandbesetzer aus West-Berlin kommen werden, ist der 17. Februar ins Auge gefaßt.

Anita Kugler