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„Boom Boom“ boomt bei den Knöchel-Open

Boris Becker kämpft sich gegen Miloslav Mecir fünfsätzig ins Viertelfinale der Offenen Versehrtenspiele von Australien  ■  Aus Melbourne Bernd Müllender

Der Aufschlag, der berühmte knallharte, er kam nicht. Er ging ans Netz, wenn es denkbar falsch war, und wurde frustrierend passiert, mal um mal. Er wirkte unkonzentriert, legte den Kinderblick des Verzweifelnden aus alten Jungenzeiten auf, kaute an den Fingernägeln, versuchte, sich mit einer Banane zu stimulieren, es half nichts. Zudem war die Tierwelt gegen ihn: Bei eigenem Aufschlag konzertierten störend Krähen von der kühnen Dachkonstruktion in Melbournes Flinders Park, Motten umschwirrten seine roten Bartstoppeln und sein Gegner Miloslav Mecir, genannt „die große Katze“, weil er so leicht und geschmeidig agiert, spielte provozierend ruhig und unterkühlt, als wolle er ihn mit jedem Ball wie eine Tse-Tse-Fliege einschläfern. „Was mache ich nur, so schlecht, immer spiele ich den falschen Ball, was ist bloß los?“, jammerte Boris Becker zwischendurch lauthals ins Publikum. 4:6 verlor er den ersten Satz in diesem Achtelfinale der Australian Open, 5:2 führte er im zweiten, machte dann schnell zehn Punkte in Folge nicht, im Tie-break führte er 4:0, um ihn doch noch zu verlieren. 0:2 nach Sätzen, dann noch 1:3 im dritten Satz - die Nachrufe wurden schon geschrieben (tja, Bernd, Ausfallhonorar is‘ nich‘, d.Red.). Noch nie hatte Becker in Melbourne auch nur das Viertelfinale erreicht. Bum, Bum, der im Lande Oz ( -tralia) „Boom Boom“ genannt wird, hatte quasi schon verloren.

Aber genauso wie ein Fußballmatch 90 Minuten dauert, spielen Tenniscracks drei Gewinnsätze - so einfach ist Rechnen im Sport. Becker gewann den dritten Satz gegen einen abschlaffenden Mecir, dank eines Netzrollers, eines dummen Leichtsinnsfehlers von Mecir und einer falschen Linienrichterentscheidung im entscheidenden letzten Spiel.

Den vierten Satz holte er sich so leicht mit 6:1, als stünde jetzt ein ganz anderer auf dem Platz, nicht jener Mecir, der das deutsche Kraftpaket zwei Stunden so düpiert hatte. Und wer dachte, der Tschechoslowake hätte noch Kräfte, die er im folgenden fünften Satz mobilisieren könnte, sah sich getäuscht. Miloslav Mecir war am Ende. Nach 3:50 Stunden verwandelte Becker den Matchball zum 6:1 im entscheidenden Durchgang. „Boom Boom“ hatte seinen Kopf noch mal aus der Schlinge gezogen, zu guter Letzt wurde es doch noch sein Tag.

Auch der Tag des Veli Paloheimo hätte es werden können. Jenes 22jährigen fröhlichen Tennisprofis aus dem finnischen Tampere, der bei den Australian Open bislang für so manches Aufsehen sorgte - sowohl durch seine überraschenden Siege, als auch durch sein unbekümmertes Auftreten unter den meist kühl-zugeknöpften Berufskollegen. Gleich zu Beginn hatte der 120. der Weltrangliste den Deutschen Carl-Uwe Steeb in fünf dramatischen Sätzen bezwungen, danach Guy Forget aus Frankreich und den Spanier Javier Sanchez, allesamt prominente Ballvirtuosen, die weit vor ihm plaziert sind. Nach Steebs Ausscheiden wußte Paloheimo die deutschen Journalisten immerhin damit zu trösten, daß er eine deutsche Mutter habe. Wo die herkomme? Ach, das wisse er gar nicht mal. Vatern habe sie in Berlin kennengelernt, da werde sie wohl Berlinerin sein.

Gestern stand er als erster Finne im Achtelfinale eines Grand-Slam-Turnieres, als Vertreter eines Landes, dem man zutraut, Tennisschläger höchstens als Schneeschuhe oder als Mückenpatschen zu benutzen. Nach nervösem und zappeligen Start und einem schnellen 0:3-Rückstand, immerhin spielte man auf dem gigantischen Center Court, hetzte Paloheimo den Defensivästheten Mats Wilander mit seinen wuchtigen Angriffsbällen von der Grundlinie so gekonnt über den Platz, daß der Schwede froh sein mußte, dank seiner Routine den ersten Satz so eben noch 7:5 zu gewinnen. Doch dann plötzlich - 2. Spiel, 2. Satz - macht der schlaksige Finne einen sehr tennisuntypischen Hüpfer, sinkt zu Boden und faßt sich an den Knöchel. Der Arzt kommt, kühlt mit Eis, verbindet Paloheimo, der humpelt und stolpert, spielt aber weiter, manchmal mit ungelenken Bewegungen wie ein gerade dem Beutel entsprungenes Känguruh. Die Punkte macht Wilander, ohne Mühe gegen seinen arg behinderten Gegner, der trotz aller Schmerzen nicht ans Aufhören denkt. Noch einmal nimmt Paloheimo der ehemaligen Nummer eins im Welttennis unter dem aufmunternden Jubel der 15.000 den Aufschlag ab, Wilander verschlägt eine Serie einfachster Bälle, aber gegen ein neuerliches Lendl-Chang-Syndrom zeigt sich der Schwede immun und siegt letztlich leicht mit 7:5, 6:4 und 6:0.

Es war schon das vierte verdrehte Band, das in Melbourne sein Opfer fand. Am Samstag hatten Gabriela Sabatini und der Australier Mark Woodforde im Rollstuhl vom Platz gefahren werden müssen. Davor war der Mexikaner Lavalle knöchelbedingt ausgeschieden. Eine merkwürdige Zufalls -Inflation, war doch, beteuerten die Verantwortlichen sogleich, in den beiden Jahren zuvor, seit in Melbournes hypermoderner Tennisarena auf dem „Rebound-Ace„-Belag gespielt wird, nie etwas passiert.

Eine Erklärung für die Knöchel-Malaise '90 fand auch Mats Wilander nicht. „Je mehr darüber geredet wird, desto mehr passiert wahrscheinlich“, vermutet er den Grund weniger im Muskelbau denn mental zwischen den Ohren der Spieler. Paloheimo wußte auch nach seinem ärgerlichen Aus mit ähnlich lustigen Augen wie Jimmy Connors und mit tiefgekühltem, dickumwickelten Fuß seine Zuhörer zu unterhalten. „Naja“, lachte er, „ich hörte halt ein leises Tschupp plötzlich“, und er verdeutlichte sein Knöchelknacken mit einem Fingerschnippen. Nein, sehr wehgetan habe es nicht: „Ich konnte ja noch über den Platz gehen. Manchmal sogar noch laufen.“ Und grinst: „Ein Bällchen ist schon gewachsen mittlerweile.“

Das Rätsel der Knöchel Open jedenfalls bleibt. Der Schwede Jonas Svensson, im Vorjahr in Melbourne noch Überraschungssieger gegen Boris Becker, machte nach seiner 2:6, 2:6, 3:6-Niederlage gegen Landsmann Stefan Edberg seine heilen Knöchelpartien für die Schmach der schmerzenden Chancenlosigkeit verantwortlich: „Stefan war einfach zu gut. Ich wünschte, ich hätte mich verletzt.“

Achtelfinale, Männer: Wheaton (USA) - Krickstein (USA) 7:6, 6:4, 6:3

Frauen: Katarina Malejeva (Bulgarien) - Rachel McQuillan (Australien) 3:6, 6:4, 6:1

Viertelfinalpaarungen der Männer: Becker - Wilander, Lendl Tscherkassow, Pernfors - Noah, Wheaton - Edberg.

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