Für einen „Gesang“ gab es 500 Lei

■ Korruption und Kompromittierung der rumänischen Intellektuellen unter der Diktatur von Ceausescu: Ein Gespräch mit Schriftstellern, Theaterkritikern und Redakteuren im Restaurant des Bukarester Schriftstellerverbandes

Erich Rathfelder

Weißt du, warum es zur Revolution gekommen ist?“, fragt H., eine der Angestellten der 'Neuen Literatur‘, der traditionsreichen deutschsprachigen Literaturzeitschrift, die auch unter der Herrschaft von Ceausescu weiter erscheinen konnte. Wir sitzen an einem der schönen, runden Tische im Restaurant des rumänischen Schriftstellerverbandes in Bukarest. Die Einrichtung, die holzgetäfelten, durch den Zigarettenqualm von Jahrzehnten gedunkelten Wände und Decken, die Tische und Stühle, alles reinster Bukarester Jugendstil. Das Haus, das einmal einem Bojaren gehörte, läßt noch die aristokratische Atmosphäre ahnen, die hier einmal geherrscht haben muß. „Es war vor allem die Kälte, niemand wollte noch einen weiteren Ceausescu-Winter erleben. Es war die Hoffnungslosigkeit, die in der Kälte steckt, die das Maß voll machte.“ Trotz der durchklingenden Ironie lacht niemand am Tisch. Denn auch die Revolution hat die Hände noch nicht wärmen können.

Der Raum ist überfüllt mit Menschen, ruhige, zerfurchte Gesichter, die Männer mit Voll- oder Schnurrbärten, die Frauen von der Aura jener unaufdringlichen Eleganz umgeben, die nur südöstlich von Budapest anzutreffen ist. Und alle tragen Mäntel oder lange, gefütterte Jacken, sitzen mit Schals und Mützen und festen, warmen Stiefeln in einem Raum, in dem einstmals adelige Gesellschaften an langen Tischen tafelten. Auch hier wird nur spärlich geheizt, die von Ceausescu verordneten zwölf Grad wurden noch nicht überschritten. Wer aus der beißenden Kälte von draußen kommt, für den ist es nur die ersten Minuten warm. Dann zieht die Kälte wieder in die Glieder. Die auf kalten Tellern gereichten Sauerkrautwürstchen oder Schnitzel mit Pommes Frites erreichen den Magen nur noch in lauwarmem Zustand. Die lauwarme Wassersuppe in George Orwells Roman 1984 fällt mir ein, die alles abtötende Atmosphäre dieser Endzeit. Und kalt oder lauwarm ist es in Rumänien auch jetzt noch überall: In den Betrieben und Behörden, in den Geschäften und Wohnungen.

Über die Revolution

Man kommt zu dem Schluß, daß es bei so einer Kälte wohl kaum zum spontanen Aufstand gekommen wäre. „Aber zu Weihnachten war es eben wärmer.“ Die ganze Nacht wurde demonstriert, damals am 21./22.Dezember, als der Diktator endlich stürzte. „Wir waren sehr gut informiert über die Lage in Temeswar, jeder telefonierte, bekam Nachrichten von Freunden, von den Westsendern. Die Spannung wuchs. Wir waren wie elektrisiert.“ Denn mit den Revolutionen in Leipzig und Prag war die Gewißheit entstanden, daß auch in Rumänien bald etwas geschehen wird. „Wir wußten, irgendwie, irgendwann wird es zum großen Knall kommen.“ Für alle war es unerträglich, wie Ceausescu sich auf dem Parteitag Ende November feiern ließ.

Das Gespräch erstirbt: Soeben ist ein Mann in den Saal getreten, der mit unsicherem Blick den Raum durchstreift, bis er schließlich auf einen Tisch zusteuert. „Der hat Gedichte auf Ceausescu geschrieben. Das ist einer von den Hofdichtern“, raunt mir jemand aus der Runde zu. Einer eben, der diese unerträglichen Gesänge auf den „geliebten Führer“ verfaßte gegen ein paar Privilegien. 500 oder 1.000 Lei bekam er vielleicht für ein Gedicht, nicht viel für jemanden, der Stück für Stück seine Seele verkauft; nicht viel bei 3.000 Lei Durchschnittsgehalt im Monat, jedoch gut für so manches Extra. Und die Möglichkeit zu publizieren.

Über die Kompromittierung

Die Gespräche werden wieder aufgenommen. Und vielleicht erinnert der inzwischen Verfemte auch daran, in welcher Zwischenwelt jeder leben mußte. Denn auch jene, die bei den Demonstrationen dabei waren, hielten über all die Jahre still. Welche Spielräume gab es für die Kulturwelt überhaupt? Wie funktionierte die Zensur? „Das Schlimmste war die Selbstzensur“, gibt ein rumänischer Schriftsteller zu. Die Schere im Kopf, die Reduktion des Möglichen auf das als möglich Gedachte: Das eine oder andere Gedicht, der eine oder andere Text, mußten sie wirklich sein? „Vielleicht haben wir nicht alle Möglichkeiten ausgenutzt.“

Mut sei es schon gewesen, die obligatorischen Reden von ihm in den Literaturzeitschriften nur gekürzt zu bringen, doch publizieren mußte man sie. Manchmal, so der Redakteur einer rumänischen Monatszeitschrift, gab es sogar ein Zusammenspiel mit den Zensoren, die, selbst gebildete Leute zumeist, manch harmlosen Text verboten, um dann und wann einen brisanten Text durchzulassen, dessen Veröffentlichung niemand für möglich gehalten hätte. In den letzten Jahren hätten sich einige Autoren auch geweigert, alte, vor Jahren geschriebene Lobeshymnen noch einmal zu publizieren. Trotzdem wurden die Texte, mit neuem Datum versehen, veröffentlicht. So sei eben nicht jeder, dessen Lobgesänge noch gestern in der Zeitung standen, wirklich zu verurteilen. Beginnen hier die Legitimationsideologien, das Sich-Hinausstehlen aus der eigenen Geschichte? Die Frage bleibt offen.

Demütigungen gab es für alle genug: Wenn ein Redakteur penibel darauf achten mußte, daß auf der Rückseite einer Zeitungsseite, auf der er oder sie zu sehen waren, keine Überschrift plaziert wird, um die Wirkung des Fotos nicht mit den wegen des schlechten Papiers durchscheinenden Blockbuchstaben zu zerstören, wenn auf den zweiten Seiten also nur mit dünnen Überschriften und Strichen gearbeitet werden durfte, dann ist zu ahnen, wie die Diktatur in das tägliche Leben kroch, jegliches Tun und Lassen bestimmte. Selbst die Bezeichnung „Genosse“ war ihm vorbehalten, sogar seine Hofschranzen bis hin zu den Politbüromitgliedern mußten sich in den Zeitungsartikeln mit der Abkürzung „Gen.“ begnügen. Die Regeln und Verhaltensweisen waren genau festgelegt. Die abgestufte Hierarchie, die gegenseitige Kontrolle, das Mißtrauen auch den besten Freunden gegenüber waren ausgeklügelte Mechanismen. „Das Schlimmste war wohl, die Ohnmacht und Hilflosigkeit zu spüren, nichts unternehmen zu können, ohne verhaftet und in die Dissidenz getrieben zu werden.

Langsam wird das ganze Ausmaß der Diktatur sichtbar. Schicht um Schicht wird freigelegt. Wer seinen Blick auf die pompösen Bauten im Süden Bukarests richtet, dort, wo der Größenwahnsinnige seinen Palast der Republik bauen ließ, dort wo 50.000 Menschen aus ihren kleinen, alten Häusern, mit ihren Vorgärten und Bäumen getrieben wurden, um seiner Phantasie, seinem Traum der Vergegenständlichung seiner Größe zu weichen, der kann doch nur ahnen, in welchem Umfang die Diktatur die Menschen bestimmte. Unsichtbar bleibt für den Betrachter dieser Herrschaftsarchitektur das Ausmaß der „Rattenmentalität, der Mentalität des Untergrunds“ (Dinescu), die sich unter der Diktatur in dieser Gesellschaft ausgebreitet hat. Es war nicht nur die äußerliche Gewalt, es war auch die Macht über das Denken und die Phantasie, die seine Macht konsolidierte.

Doch anders als im Nachkriegsdeutschland sei der Satz „Wir alle haben uns schuldig gemacht“, im heutigen Rumänien oft gebraucht und von vielen nicht so leicht dahingesagt, wirft jemand ein. Die Nachdenklichkeit, die aus vielen Gesichtern spricht, wirkt überzeugend. Jeder habe Kompromisse gemacht, keiner könne sich aus der Geschichte stehlen, das ist der Tenor der Gespräche. Der Kunsthistoriker und Philosoph Andrei Plesu zum Beispiel, jetzt neuer Kulturminister, Jahrgang 1948, der sogar drei Jahre im Ausland, in Heidelberg, studieren durfte, nimmt sich später, in einem Interview, selbst nicht aus. „Wir hätten früher aufstehen sollen.“ Und Mircea Dinescu, der begnadete Dichter, der am 22.Dezember von seinen Freunden aus dem Hausarrest befreit wurde und im Triumphzug zum Fernsehgebäude zog, der es mit besetzte, um dann dort als erster öffentlich zu sprechen, auch er träumt heute, nach der Revolution, noch davon, sich mit entblößter Brust den Schergen des Diktators entgegenzuwerfen. Das Risiko der dramatischen Geste, der Geste des Martyriums, gingen die Erwachsenen nicht ein, weder die Intellektuellen noch die Künstler. Die Jugendlichen riskierten ihr Leben, manche erst 15 Jahre alt, ebenso die Studenten und Arbeiter, unter ihnen viele Zigeuner, und sie waren es, die im Kugelhagel der Securitate starben...

Über Schuld und Sühne

Der Nachtisch kommt auf den Tisch, ein süßer Kuchen, etwas glubschig zwar, doch aus Eiern und Butter hergestellt, eine Köstlichkeit, die es seit Jahren nicht mehr gab. Selbst die Köchin hier im Restaurant des Schriftstellerverbandes hatte solche Zutaten seit langem nicht mehr auftreiben können. Und lachend wird erzählt, daß ein Kollege, der zum ersten Mal wieder richtigen Kaffe getrunken hatte, sich beschwerte: Dies könne doch gar kein echter Kaffee sein. Nach seiner Erinnerung müßte der ganz anders schmecken.

Schnell kommt das Gespräch auf grundsätzliche Fragen zurück. In welchem Umfang sind wir als Einzelne verantwortlich gewesen und ab wann dient der Ruf nach Sühne einzelner Verbrechen nur mehr der kollektiven Entlastung? Ist es schon Kumpanei, wenn man Verständnis für die neuen Leute an der Spitze hat, die ja auch nur ihre Kompromisse gemacht haben - wie alle anderen auch. Ist denn der Star der neuen Regierung, der schöne Petre Roman, von dem man munkelt, er habe seinen Studienaufenthalt in Frankreich der persönlichen Intervention von Elena Ceausescu zu verdanken, nicht geanuso verstrickt, wie der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Rates der Rettung der Nation, Ion Iliescu, der sich zwar in den letzten Jahren zunehmend mutiger als andere Kommunisten zeigte, der das System aber doch mitaufgebaut hat? Und wie steht es um seinen Stellvertreter, Dimitru Mazilu, war der denn nicht selbst ein Securitate-Mann, bevor er den Menschenrechtsbericht für die UNO schrieb?

„Wo ist der Anfang, wo ist das Ende dieser Kompromittierung?“ Gibt es sie schon, die Komplizenschaft der Kompromittierten? Nur wenn es gelänge, klare Kriterien für Schuld und Nichtschuld festzulegen, könne diese Gesellschaft an die Arbeit gehen. Schwache Punkte fänden sich bei jedem. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, so stöhnt einer, wird schwierig werden und könnte den gesamten Prozeß der Demokratisierung behindern. Denn wenn einer jetzt Verantwortung übernimmt, dauert es nicht lange, bis sein schwacher Punkt gefunden ist. Wo ist also die Grenze, wo hört die Unschuld auf, und wo beginnt die Schuld? Wenn Schriftsteller, Redakteure oder Schauspieler jetzt einen Freibrief bekommen, warum denn nicht Richter, Staatsanwälte, Polizisten oder sogar „Securisten“? Wenn aber Polizisten, Milizionäre, Securisten verurteilt werden, warum dann nicht auch Schriftsteller, Redakteure, Schauspieler? Niemand könne aus dem Kreis der Verantwortlichen ausbrechen, niemand könne sich freisprechen. Würde die Grenze zwischen Schuld und Unschuld willkürlich gezogen, wäre die Folge neues Unrecht.

Über die Grenze

„Die Grenze ist dort anzusetzen, wo tatsächlich Menschenleben auf dem Spiel standen, wo geschossen, gemordet und gefoltert wurde.“ Diesem kategorischen Imperativ, der jetzt offiziellen Sprachregelung, zu folgen, sei jedoch nicht leicht, wirft eine Schriftstellerin ein. Es sei noch gespenstisch gewesen, als der erste Prozeß gegen einen Ceausescu-Mann im Fernsehen gezeigt wurde, gegen einen Major der Miliz, der am 22.Dezember einen Offizier der Armee verwundet hatte. Der Ankläger war mit scharfer Stimme aufgetreten. Das Urteil stand von vornherein fest, die Verteidigung beschränkte sich darauf, um Straferlaß zu bitten. Das Ganze erinnere an die Prozesse im alten System, nur mit umgekehrten Vorzeichen. „Es werden jetzt eben Sündenböcke gesucht, über deren Verurteilung sich die gesamte Gesellschaft entlasten kann.“ Überhaupt, warum wurde mit diesem kleinen Fisch angefangen, warum nicht mit Nicu Ceausescu, warum nicht mit hohen Tieren, jenen 33 Leuten, die jetzt in Schauprozessen verurteilt werden sollen? Und was passierte mit den verhafteten Securisten? Manche seien doch wieder freigekommen.

Die Grenze, gibt einer zu bedenken, müßte weiter gezogen werden. Denn schließlich gab es sie doch, die Nichtkompromittierten, die Menschen, die nie jemanden angeschwärzt haben, die niemals lobhudelten. Und die sollten in die Spitzenpositionen. Alle anderen müßten bestraft werden. „Willst du Millionen ins Gefängnis stecken?“

Die Diskussion ist hitziger geworden. Vielleicht liegt es an dem dunklen Wein und dem Obstschnaps, der soeben gereicht und in kleinen Schlucken getrunken wird. Wir beschließen, aufzubrechen. Es ist schon dämmrig geworden, die Fahrbahn ist immer noch von einer über zehn Zentimeter dicken Eisschicht bedeckt. In tiefen Rillen rutschen einzelne Autos vorbei, in den schmalen Nebenstraßen brennt kein Licht.

Selbst der große Gebäudekomplex der Securitate, nicht weit entfernt vom Hotel „Intercontinental“, mit seinen Stacheldraht-bewehrten Mauern, liegt im Dunkeln und erinnert uns daran, daß die Akten der Securitate noch immer nicht zugänglich sind. Obwohl die Geheimdienstorganisation in die Armee eingegliedert wurde, hat sie keineswegs aufgehört, zu bestehen. Und das Gebäude erinnert auch daran, daß in den meisten Zeitungen und Redaktionen, in den Behörden und Institutionen noch immer im alten Stil geredet, geschrieben und gehandelt wird. Einige Chefs mögen zwar ausgewechselt sein, aber gewiß nicht alle. Ob die Stellvertreter größere Legitimation haben, zu entscheiden, ist dahingestellt.

Endlich sind sich alle einig: Das Vorhaben, die Demokratie in Rumänien mit Leben zu füllen, wird für lange Zeit auf schwachen Füßen stehen. Die neuen Impulse, und die gebe es ja, müßten besser aufgenommen werden. „Die jungen Leute haben die Revolution gemacht, sie sind unbelastet, sie sollen schon jetzt in höhere Positionen gehen und die alten Chefs und Vizes ablösen. Uns Älteren bleibt vielleicht nur, der Jugend den Weg zu ebnen.“