Chancen für einen dritten Weg?

APO-Veteran Tilman Fichter, Mitarbeiter beim Parteivorstand der SPD: Alternative in der DDR ist Anschluß von unten oder deutsch-deutsche Konföderation  ■ D O K U M E N T A T I O N

Eine große Mehrheit der DDR-Bevölkerung hat sich ganz offensichtlich mit der Teilung Deutschlands - ganz im Gegensatz zur vorherrschenden Status-quo-Grundstimmung in der Bundesrepublik - nie völlig abgefunden. Nicht zuletzt deshalb stand die Mauer mehr als 28 Jahre lang. Die große Unruhe in Leipzig, Dresden, Berlin, Halle oder Stendal stellt den repressiven Sozialismus in der DDR zur Disposition. Die Zweistaatlichkeit Deutschlands, die in weiten Teilen der bundesrepublikanischen Linken schon längst ein Glaubensgrundsatz geworden war, bröckelt. Kurz: Jalta und Potsdam gehören heute bereits der Geschichte an, und die zweite Oktoberrevolution in Ost- und Mitteleuropa ist noch lange nicht beendet. Denn die zentral gelenkte Planwirtschaft in den Comecon-Ländern steht vor dem Offenbarungseid.

Allein die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur in der DDR für Verkehr (Schiene und Straße), Telefon und Kommunikation, Energieversorgung und Umwelt würde - nach einer Berechnung des „Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung“ (DIW) in Berlin - rund 130 Milliarden DM kosten. In dieser Schätzung sind der Kapitalbedarf für den Schuldenabbau (ca. 40 Milliarden DM) sowie die notwendigen Investitionen in den gesellschaftlichen Sektoren Gesundheit, Landwirtschaft, Tourismus und Handel noch nicht enthalten. Laut Axel Boje (Unternehmensberater in Düsseldorf und Berlin unter anderem auch für staatseigene Betriebe in der DDR) wären in den ersten Jahren mindestens 260 Milliarden DM für die Modernisierung der Infrastruktur aufzubringen ('FAZ‘, 12Dezember 1989, Seite 19), andere Berechnungen liegen noch weit höher. So schätzte der SPD -Umweltexperte Harald B. Schäfer die Kosten für einen ökologischen Umbau der DDR-Energieindustrie kürzlich sogar auf 150 bis 200 Milliarden DM ein. Darüber hinaus benötigt die Industrie in der DDR rund 450 Milliarden DM an Ausrüstungsinvestitionen, Maschinen und Anlagen, nämlich hier sei noch einmal Boje zitiert - mindestens 150.000 DM je Industriebeschäftigten, die binnen wenigstens vier Jahren zu investieren sind. Ferner jährlich mehr als 60 Milliarden DM für den Unterhalt, Reparaturen, Ersatzteile, Abschreibungen, Verzinsungen. Denn die DDR-Betriebe entsprechen in mehr als 85 Prozent der Fälle dem „industriellen Stand des Westens von 1965 oder früher“. Und für die Sanierung der zerfallenden Innenstädte beziehungsweise den notwendigen Bau neuer Wohnungen rechnet man noch einmal mit rund 60 Milliarden DM. Was tun? Es ist nicht mehr auszuschließen, daß die Neuvereinigung von unten (auch wenn sie bei den meisten Intellektuellen in der Bundesrepublik und der DDR gegenwärtig nicht als aktuelles Problem der DDR-Bevölkerung gilt) angesichts dieser aussichtslosen ökonomischen Situation nach einem weiteren grau-grauen Braunkohlewinter doch von der Mehrheit der DDRler gewünscht werden könnte, beziehungsweise daß der Strom der übersiedler erneut anwächst.

Alles in allem hat der Realsozialismus in der DDR rund vierzig Jahre von der Substanz der bürgerlichen Gesellschaft gelebt. Die Infrastruktur liegt darnieder, und die geplante Einführung von Marktmechanismen und eine energische Dezentralisierung der Staatskombinate kommen rund zwanzig Jahre zu spät. Die beiden SED-Professoren Uwe Jens-Heuer und Dieter Klein (seit kurzem Mitglied der provisorischen SED -Parteileitung) forderten ähnliche Veränderungen im Bereich der DDR-Wirtschaftsleitung bereits Mitte der sechziger Jahre. Doch die damaligen vorsichtigen ersten Reformschritte zum Aufbau eines „Neuen Ökonomischen Systems“ (NÖS) der Planung und Leitung der DDR-Volkswirtschaft wurden ab Dezember 1970 durch eine erneute Rezentralisierung abgelöst. Die Verlagerung von wirtschaftlichen Entscheidungen auf die Betriebsebene wurde teilweise rückgängig gemacht, und das neue Selbstbewußtsein der DDR-Wirtschaftskader brach schon bald in sich zusammen. Die Modernisierungspolitik a la Walter Ulbricht hatte die Volkswirtschaft der DDR ganz offensichtlich überfordert. Statt dessen wurden jetzt unter Erich Honecker die Kapitalmittel und die Forschung auf sogenannte strukturbestimmende Zweige der Volkswirtschaft beziehungsweise neue Großvorhaben konzentriert. Statt effektive Modernisierung und „Demokratie und Selbstentscheidung in der sozialistischen Wirtschaft“ dominierten jetzt in der DDR-Ökonomie erneut Autarkiebestrebungen, Parallelproduktion, schematische Planungsprozeduren, administrative Methoden und der gewohnte Schlendrian der entmachteten Kombinate und VEBs. Die Entscheidungsbefugnisse über Investitionen lagen erneut in den Händen anonymer zentraler staatlicher Stellen. Einige Milliarden staatlicher Wirtschaftshilfe, wie sie Helmut Schmidt, aber auch große Teile des rot-grünen Milieus in der Bundesrepublik als Sofortmaßnahme für die DDR-Ökonomie fordern, könnten diese Fehlentwicklung nicht ungeschehen machen. Denn diese Milliarden würden nur im märkischen Sand versickern.

Die Alternative zum ökonomischen Zusammenbruch der DDR -Volkswirtschaft ist meines Erachtens die baldmöglichste Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Teilstaaten. Nur eine solche konföderative Lösung könnte auch den staatsrechtlichen Rahmen für eine längerfristig angelegte finanzielle Unterstützung der DDR-Gesellschaft durch die bundesrepublikanischen Steuerzahler beziehungsweise das private Kapital bieten. Gemeinsame Gremien und Expertenkommissionen könnten etwa gewährleisten, daß die westdeutschen Gelder nicht für die Finanzierung des SED-Partei- beziehungsweise DDR-Staatsapparates, sondern für die ökonomische Rekonstruktion der DDR verwendet werden. Ohne diese ökonomische Stabilisierung würde übrigens auch die Demokratiebewegung in der DDR schon bald scheitern. Realpolitisch steht also - nicht zuletzt aufgrund der Reformunfähigkeit der DDR-Wirtschaft in der Bundesrepublik mittelfristig nur die Alternative Anschluß von unten oder deutsch-deutsche Konföderation zur Debatte.

Die Zeit drängt. Denn Kohls Zehn-Punkte-Plan hat das Ziel der deutschen Einheit als operatives Element in die europäische Politik eingeführt. Für seine Vorschläge erhielt der CDU-Kanzler sogar die spontane Zustimmung der SPD -Bundestagsfraktion. Kohl hatte in sein Konzept sowohl den vom derzeitigen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow entwickelten Gedanken einer „Vertragsgemeinschaft“ eingebaut, als auch die Konzeption der „kleinen Schritte“ von den Sozialliberalen übernommen. Damit versucht das Duo Rühe/Kohl offensichtlich, das Hauptthema des Bundestagswahlkampfes 1990 schon jetzt zu formulieren und damit übrigens auch auf die politische Diskussion in der DDR -Opposition einzuwirken. Ein dritter Weg stand eventuell Mitte der sechziger Jahre noch zur Diskussion. Heute sehen die Realitäten - um ein Lieblingswort von Walter Ulbricht zu zitieren - aber anders aus. Die demokratische Linke in der Bundesrepublik muß den ökonomischen Ruin der DDR -Kommandowirtschaft endlich zur Kenntnis nehmen. Ansonsten regiert Helmut Kohl noch im Jahre 2000. Linke Melancholie macht es eventuell möglich. Allen rot-grünen Bedenkenträgern in Ost und West sei deshalb ins Stammbuch geschrieben: Eine bundesrepublikanische Gesellschaft, die sich langfristig auf eine enge Zusammenarbeit mit der DDR-Gesellschaft einläßt, muß sich selbst verändern.

Postskriptum: Meine Überlegungen zur DDR-Ökonomie widme ich Antje Vollmer (vgl.: Die Träume der alten Männer. Über die Große Koalition in der Deutschlandpolitik. In: 'Neues Deutschland‘ bzw. taz vom 6.Januar 1990).

Tilman Fichter