Auflösung und Demokratisierung

Über das politische Verschwinden der SED  ■ K O M M E N T A R

Auflösung oder Zerfall - in dieser fatalen Alternative ist die SED-PDS gelandet. Und ein Ausweg ist nicht sichtbar. Die „leise“ und die „laute“ Flucht aus der Partei hält an. Für die „laute“ Flucht steht Wolfgang Berghofer - vor vierzehn Tagen schon von der 'Bild'-Zeitung angekündigt - : eine Flucht in Klumpen, mit 39 Genossen, ein Sprung auf abfahrende Züge, so wie die Dresdner auf die Übersiedlerzüge aus Prag aufsprangen. Keine Frage, der Absprung von Berghofer, von der SPD-West, insbesondere von Voscherau längst vorbereitet, ist ein Signal: wer jetzt nicht geht, wird in der DDR kaum noch Politik machen können. Eine politische Auflösung der Partei, die wenigstens den Konsens über das Trennende und mithin die Auseinandersetzung voraussetzt, ist kaum noch denkbar. Dazu fehlt die Zeit, fehlen die Protagonisten. Erneuerung und Auflösung der SED, Namenswechsel, Symbolwechsel, Parteiverfahren, Besitzabgabe

-das ist bestenfalls der Versuch, schneller als der Zerfall zu sein.

Die SED hat Positionen geopfert, die nicht mehr haltbar waren. Aber war das Dilemma zu lösen, um die Macht im Wahlkampf zu kämpfen und gleichzeitig die Machtgarantpositionen in den Medien, im Staat aufzugeben? Konnte eine Partei sich überhaupt demokratisieren, deren raison d'etre der undemokratische Machtbesitz war? Konnte ein hypertropher Bürokratenhaufen, dem es um Existenz, Alterssicherung und Privilegien ging, sich nun plötzlich in eine Organisation von Idealisten verwandeln, die nun antreten, den Traum des demokratischen Sozialismus aus dem Müllhaufen der Gegenwart für die Zukunft zu retten? Überhaupt, kann eine Partei noch ernsthaft eine Politik entwickeln, die automatisch für das tägliche Abwandern von Tausenden verantwortlich gemacht wird?

Als selbsternannte Partei der DDR hätte ihr Wahlsieg Massenflucht und sofortigen Verlust der DDR, eine zweite Revolution mit sich gebracht; als oppositionelle Sekte kann sie ihre Mitglieder wiederum nicht halten. Doch das Triumphgefühl bleibt schal. Nein, der Auflösung, dem Zerfall keine Träne! Das ist der letzte Schritt des sozialistischen Gangs. Aber etwas anderes stimmt bedenklich: die Argumente, mit denen die DDR- und die BRD-Öffentlichkeit diese Prozesse begleiten, mit denen die SED-Flüchtlinge sich rechtfertigen. Die Erneuerung der SED sei nicht glaubwürdig; Reiche, das Schoßkind der Bonner SPD, fordert gar die Auflösung der SED, weil sie das entscheidende Hindernis für eine Demokratisierung der DDR sei. Was heißt denn „glaubwürdige“ Veränderung einer Partei? Parteien sind nicht „glaubwürdig“, sondern sind Organisationen im Kampf um die Macht. Eine Partei muß sich nicht „glaubwürdig“ verändern, sondern es reicht, daß sie sich verändert. Ein protestantischer Smog liegt über der DDR. Glaubwürdigkeitsprüfungen sind angesagt. Und: ein Hindernis für die Demokratisierung ist die SED entschieden nicht, sie ist Teil des Demokratisierungsprozesses, Zentrum des Streites um Demokratie. Wie soll denn eine DDR-Demokratie entstehen, wenn nicht über die Auseinandersetzung mit der vierzigjährigen totalitären Bürokratie? Ist es ein Gewinn, wenn der ganze Komplex SED der neuen Demokratie als riesiges Resozialisierungsproblem und Dauerbeschäftigung für eine künftige Strafjustiz übergeben werden. Sind Ent-SED -fizierungsverfahren mit Spruchkammer im Stile des „runden Tischs“ eine erquickliche Vorstellung? Was ist das überhaupt für eine Demokratievorstellung, die gar nicht den politischen Kampf mit der SED-Macht will? Nein, das ist keine revolutionäre Ungeduld, die sich in dem Jammern darüber ausdrückt, daß die Demokratisierung in der SED nicht schnell genug gehe; das ist nichts anderes, als daß auch die Opposition noch im Zeichen des Nachstalinismus operiert. Noch erwarten sie alles von der SED: die Öffentlichkeit durch Teilhabe an den Zeitungen; die Demokratisierung und letztlich den Sieg am 6. Mai.

Es ist die Schwäche der Opposition, daß sie sich die SED nicht zum politischen Gegner aufgebaut hat, sondern sie von oben her, über Druck auf die Regierung Modrow, über den „runden Tisch“, letztlich über den Staat zu lähmen versucht. Die Auflösung oder der Zerfall dieser Partei signalisiert nur, daß der Demokratisierungsprozeß in diesem Land erloschen ist. Die Parteien hasten in einen Angleichungsprozeß an die bundesdeutschen Parteien. Das Volk ist aus dem Spiel, rennt gegen einen schimärischen SED -Gegner auf den Straßen an, während die Wahlalternative längst in den vielen kleinen Kreisen ausgehandelt wird. Im Grunde hat der - durch die Bundesrepublik erzwungene frühe Wahltermin - die Demokratisierung, das heißt die Entwicklung einer Demokratie aus den wirklichen Erfahrungen totalitärer Herrschaft heraus, längst schon beendet. Nicht Ideen zur Demokratie stehen am 6. Mai zur Wahl, sondern Ableger der Bundesparteien. Die verschwindende SED wird Tausende „Milieustalinisten“ auf die Suche nach einer neuen politischen Heimat entlassen. Sie werden die späte Rache der gescheiterten Staatspartei in sich tragen.

KLaus Hartung