SED-Medien machen auf „unabhängig“

Die 14 SED-Bezirkszeitungen sind von der Mutterpartei in die Unabhängigkeit verstoßen worden / Die alten Redaktionen auf der Suche nach einem neuen Journalismus / Die DDR-Zeitungen drucken die staatliche Nachrichtenagentur 'adn‘ nach / 'Ostsee-Zeitung‘ zum Beispiel  ■  Aus Rostock Klaus Wolschner

Der Zerfall der Machtapparate der SED-PDS hat in den letzten Tagen auch die Presse in den Bezirken erreicht. Die Mehrzahl der 14 bezirklichen SED-Organe sind am Montag als „unabhängige“ Zeitungen erschienen. Amtlich-förmlich, wie der Stil der Presse in der DDR immer noch ist, teilten die Blätter ihren LeserInnen diesen Schritt mit: Kein Satz darüber, daß die Zeitungen die Unabhängigkeit gewollt hätten, kein Wort über einen internen Streit, keine Information über den harten Machtkampf zwischen Redaktionen und Chefetage, der in vielen der Ex-SED-Zeitungen tobt. Der Parteivorstand der SED-PDS habe das so beschlossen, schrieb die 'Berliner Zeitung‘ und fügte „in eigener Sache“ ein paar Bemerkungen hinzu: „Wenn wir uns jetzt unabhängig fühlen und so arbeiten, dann ist das Ausdruck unseres Selbstverständnisses... Manches dabei müssen wir erst lernen. Die Schere im Kopf, mit der wir viele Jahre gearbeitet haben, läßt sich nicht über Nacht entfernen.“ Tatsächlich waren am 10.Januar die Chefredakteure der 14 Bezirkszeitungen bei Parteichef Gysi eingeladen gewesen, der Chef der 'Rostocker Ostsee-Zeitung‘ war mit dem Mandat seiner Belegschaft dorthin gefahren, die Unabhängigkeit zu fordern. Über das Ergebnis dieser Besprechung wurde nichts mitgeteilt. Allerdings erschienen einige der SED-Zeitungen schon in der vergangenen Woche ohne den Wendeuntertitel „sozialistische Tageszeitung“. In Rostock nutzte die SPD die rechtlich unklare Situation und forderte die Einstellung der Zeitung, da sie zwei Tage ohne Impressum - also illegal erschien. Noch ist mit der Lizenz die Kontingentierung des Papiers verbunden - und die 'Ostsee-Zeitung‘ hat mit 300.000 Auflage den Löwenanteil der nördlichen Region. Deshalb steht sie so sehr unter Beschuß seitens der SPD. Die will die alte 'Mecklenburgische Volkszeitung‘ neu beleben.

Die ehemalige Rostocker SED-Zeitung wurde am Samstag unter dem Titel 'Neue Ostsee-Zeitung‘ verkauft und druckte in alter Manier die Zustimmung von Stimmen aus dem Volke zur Unabhängigkeit - genauso wie sie vor sechs Monaten die Zustimmung des Volkes zum SED-Regime populistisch untermauert hatte. Am Nachmittag tagte die Belegschaftsversammlung und wählte die Spitze des Verlages und der Redaktion neu. In dem Statut, das zur Diskussion vorlag, wird aber deutlich, daß die Verlagschefs so genau nicht wissen, ob der Verlag die Lizenz der SED-Zeitung so einfach übernehmen kann, und was das bedeutet, wenn die Zeitung nicht mehr SED-eigen, dafür wie alle VEBs staatseigen wird...

Neuer Titel

-alter Apparat

Auch wenn der Titel neu ist - der innere Apparat ist geblieben. Und die Mehrzahl der Texte stammt nach wie vor von 'adn‘. In den gesetzeslosen Wochen der Doppelmacht nach der Wende war die Redaktionen praktisch schon unabhängig, es gab weder die Anrufe der SED-Bezirksleitung noch die Vorgaben aus Berlin, was wie präsentiert werden sollte. Überhaupt hat es den letzten echten Konflikt in der 'Ostsee -Zeitung‘ 1984 gegeben, als die Reformvorstellungen eines lokalen Soziologen abgedruckt wurden und das ZK aus Berlin daraufhin eine Kommissarin schickte: „Da wurden alle rund gemacht“, erinnert sich der damalige und heutige Lokalchef Klaus Müller. Aus der SED ist er inzwischen ausgetreten, aber nicht alle KollegInnen haben die Wende nachvollzogen. Die Redaktion hat begonnen, über einen ganz neuen Journalismus nachzudenken. Aber wie machen? „Ich bin in dem alten System aufgewachsen“, gesteht Müller. Auf seinem Arbeitstisch liegt die Ausgabe einer westdeutschen Lokalzeitung: Damit, das wissen die DDR-Journalisten, müssen sie sehr bald konkurrieren. Bis April soll der Preis der DDR -Zeitungen noch bei 15 Pfennig liegen - allein die 'Rostocker Ostsee-Zeitung‘ bekam von der SED jährlich 8,5 Millionen Mark Subvention. Ab April sollen die Zeitungen jedoch 50 Pfennig kosten, danach möglichst bald kostendeckend arbeiten. Wie das gehen soll und wie es weitergehen kann, das weiß derzeit niemand.

Der Gang der Bezirkschefredakteure nach Berlin war dringend notwendig, um sich auf den 6.Mai vorzubereiten: Wenn nämlich die SED abtritt, könnte von heute auf morgen die 350 Millionen gestrichen werden, mit denen die Staatspartei bisher jährlich ihren linientreuen Medienapparat finanzierte. Die 'Ostsee'-Druckerei in Rostock hat moderne Maschinen, auf denen bislang aber nur die Nordauflage des 'Neuen Deutschland‘ und der 'Jungen Welt‘ gedruckt wird. Für die begehrten Westdevisen hatte der SED-Verlag einen Auftrag aus Holland besorgt: pornografische Schriften.