AKW-Check mit Hammer und Säge

■ Internes Papier belegt unglaubliche Zustände in Frankreichs Atomkraftwerken / Um einen Hydrauliktest des Primärkreislaufs „regelgerecht“ durchzuziehen, gingen Atomtechniker mit Brachialgewalt vor

Paris (taz) - Mit atemberaubenden Methoden haben, wie jetzt bekannt wurde, französische Atomtechniker den Atomreaktor Chinon B-4 im vergangenen August einem Härtetest unterzogen. Im Verlauf des Experiments, bei dem der Primärkreislauf des 1988 in Betrieb genommenen Druckwasserreaktors auf Dichtigkeit geprüft werden sollte, machte sich die Betriebsmannschaft mit Säge, Hammer und Schraubenzieher an einer für die Kühlung des Reaktorkerns zentralen Pumpe zu schaffen. In einem internen Bericht der Atomaufseher des Pariser Industrieministeriums heißt es dazu unmißvertsändlich: „Der hydraulische Test des Primärkreislaufs (...) hat unter ganz und gar unannehmbaren Umständen stattgefunden.“ Das Papier liegt der taz vor.

Die für den Test am abgeschalteten Reaktor eingesetzen Pumpen liefen an jenem 24. August auf Hochtouren, um zu testen, ob der gesamte Primärkreislauf dicht ist. „Gegen 20.30 Uhr“, schreiben die Atomaufseher, die bei dem Test anwesend waren, „wurde beschlossen - ohne den für die Vorbereitung von Wartungsarbeiten Verantwortlichen zu unterrichten, ohne vorherige Analyse und ohne auch nur ein einziges Schriftstück zu erstellen -, bei der Pumpe mit Säge, Hammer und Schraubenzieher anzusetzen und die Gegenmutter, die die Regulierung auf dem vorgeschriebenen Niveau blockiert, zu zerstören (...)“.

Zu dieser Brachialmethode griffen die französischen Atomtechniker, weil der vorgeschriebene Testdruck von 207 bar nicht erreicht wurde, sondern bei 198 bar hängenblieb (Normaldruck: 155 bar). Durch die Zerstörung der Begrenzungsmutter sollte eine der Pumpen über die vorgeschriebene Höchstdrehzahl hinaus beschleunigt und so das gewünschte Testergebnis erreicht werden. Erst eine „nachfolgende Analyse“ brachte ans Licht, daß der Versuch scheitern mußte: Aus einem undichten Ventil des Primärkreislaufs strömten 4.000 Liter Wasser pro Stunde.

Die Atomaufseher beschweren sich in ihrem Bericht außerdem über „improvisierte Organisation“. Auch über die Abwesenheit der „Mission Sicherheit“ während der gesamten Dauer der Operation zeigten sich die Kontrolleure „etwas überrascht“. Noch größer sei allerdings ihr Erstaunen gewesen, „als sie am 24. August mehrfach den Ingenieur für Sicherheit und Strahlenschutz im Kontrollraum anriefen und der kein Lebenszeichen von sich gab“. Die durchgehende Anwesenheit eines solches Spezialisten im Kontrollraum ist in französischen AKWs seit dem Reaktorunfall von Harrisburg von 1979 vorgeschrieben.

Der im Pariser Industrieministerium angesiedelte Chef der Atomaufseher, Michel Laverie, übersandte den heiklen Bericht samt Begleitschreiben Anfang September an den verantwortlichen Abteilungsleiter des staatlichen französischen Stromkonzerns und AKW-Betreibers Electricite de France (EdF). Die Vorgänge im AKW Chinon bewiesen „erneut eine Organisation und Praktiken, die im Gegensatz zu den Regeln der Sicherheit und Qualität“ stünden, heißt es in dem Schreiben. EdF wird aufgefordert, innerhalb eines Monats die notwendigen Maßnahmen zu präsentieren, um einer Wiederholung derartiger Vorgänge vorzubeugen.

Mycle Schneider/gero