„Wenn's Ihnen nicht paßt, gehen Sie doch rüber“

■ Abgeschoben zwischen Kletterseil und Sprossenwand / 100 DDR-Übersiedler leben seit einer Woche in einer Turnhalle

Die einzigen, die freundlich sind, sind verdächtig. Hilfsbereite sind in der Regel Zuhälter. Das zeigt sich erst später. Wer sich in der Turnhalle Theodor-Billroth-Straße überhaupt nicht zeigt, sind Sozialarbeiter, Behördenvertreter, Arbeitsberater. Seit einer Woche hausen hier 90 DDR-Übersiedler zwischen Seitpferden, Barren und hochgebundenen Kletterseilen.

Seit der unfeierlichen Einweihung von Bremens erster Turnhalle als Notunterkunft hat sich hier kein Offizieller mehr blicken lassen. Sich im neuen Alltag zurechtzufinden, ist den Übersiedlern selbst und ein paar handschriftlichen Hinweistafeln überlassen: „Toiletten nach Gebrauch bitte spülen.“

Nur einmal am Tag kommt der Johanniter-Fahrdienst und lädt die täglichen Essensrationen aus: waschkorbweise Roggenschnittbrot, kartonweise Tip-Margarine, „Delikateß -Bierschinken“

folienverschweißt, palettenweise Apfelsaft in Tetra-Pack. Das Mittagessen kommt in Warmhalte-Töpfen. Verpflegungs -Tagessatz, abzugsfähig von eventuellen Sozialhilfeansprüchen: 8,56 DM.

Das Essen ist gut, sagen die Notuntergebrachten. Und nahezu die einzige Abwechslung beim Zeittotschlagen zwischen Etagenbetten und - gar nichts. Waschmaschine - gibt es nicht. Kühlschrank - gibt es nicht. Spielzimmer für rund 20 Kinder - gibt es nicht. Eine Möglichkeit zum Wäschetrocknen

-gibt es: Die ehemalige Sprossenwand. Irgendjemand hat gestern zwei Badezimmerspiegel spendiert, damit die Menschen beim sinnlosen Warten nicht auch noch vergessen, wie sie aussehen.

In einem Umkleideraum haben die ehemaligen DDR-Bürger aktuelles West-Fernsehen installiert: Auf einem zum Fernsehtischchen umfunktionierten

Sprung-Kasten flimmert ein winziger Schwarzweiß-Bildschirm vor schmuddelgelber Wand. Abends findet hier kollektive Freizeitgestaltung auf ausrangierten Turnriegen -Hartholzbänken statt. Außer Fernsehen herrscht Raucherlaubnis.

Die Zuversicht, daß sie irgendwann wieder rauskommen, haben manche schon nach einer Woche verloren. „Die haben uns einfach vergessen“, sagt eine Frau.

Vergessen sind zumindest die Versprechen, die man ihnen bei ihrer Ankunft gemacht hat. „Sie kommen als erste hier raus, schon morgen“, hatte ein freundlicher Herr einer werdenden Mutter versprochen, als er den dicken Bauch und den verstörten Blick auf die Doppelbettreihen sah. Auch das war vor einer Woche, die Frau im achten Monat. Inzwi

schen ist sie fast im neunten und hat den freundlichen Herrn noch nicht wiedergesehen. Aus Angst vor einer Fehlgeburt hat sie in einem Krankenhaus um ein Bett nachgesucht und auch bekommen. Außer ihr hat bislang nur einer das Lager wieder verlassen. Aber Richtung DDR: „Der ist aus Verzweiflung wieder zurückrübergemacht.“

Ein junger Mann kramt in seinem Persönlichen-Habe-Depot am Fußende seines Betts, findet, was er zornig sucht und schließlich wie ein endlich gefundenes Beweisstück zur Überführung eines Kapitalverbrechens in der Luft schwenkt. Es ist ein Scheck, ein Scheck über 46 Mark, ausgefertigt im Bremer Sozialamt. Lebensunterhalt vom 22.1.1990 bis zum Monatsende. „Können Sie mir mal sagen, wie ich mit 46

Mark über die Runden kommen soll. Allein Paßformulare und vorläufiger Paß kosten 45 Mark. Und die Papiere brauche ich.“ Sein Verdacht: „Wir sollen hier weichgekocht werden, bis wir freiwillig wieder zurückgehen. Rausekeln wollen sie uns.“ Dabei hätte er gut bei seiner Tante in Berlin (West) wohnen können, nur ein paar Straßen von seiner alten Wohnung in Berlin (Ost). Jetzt sitzt er in Bremen. Die schriftliche Bestätigung der Westberliner Tante Ingrid, „daß mein Neffe Heiko H. bei mir wohnen kann“ hat im Aufnahmelager Gießen niemanden interessiert: „Sie kommen nach Bremen. Da ist Platz für Sie!“

Kein Interesse für die Neubremer wider Willen hat man offensichtlich auch beim Arbeitsamt: Vor die Bewilligung von Arbeits

losenhilfe haben die Sachbearbeiter eine „ordnungsgemäße schriftliche Abmeldung“ von der ehemaligen Arbeitsstelle gesetzt. Ohne Stempel gibt's kein Geld, ohne Geld keinen Paß, ohne Paß keinen Stempel: „Fahren Sie zurück nach Leipzig in ihre alte Firma und holen Sie sich die eine Arbeitsbescheinigung ihrer Firma. Dann können Sie wiederkommen.„-„Und wovon soll ich Reisepaß und Fahrkarte bezahlen?„-„Das ist Ihre Sache. Es war ja auch ihre Sache, daß Sie hierhergekommen sind. Wenn's Ihnen hier nicht paßt, können Sie gern wieder zurückgehen.“

Resümee einer jungen Frau nach einer Woche freier Westen: „Als ich die Grenze hinter mir hatte, habe ich mich noch riesig gefreut. Inzwischen hab‘ ich fast nur noch geheult.“

K.S.