Das Kapital ist schlauer Geld ist die Mauer

■ Heiner Müller über die von ihm vorgetragene Forderung nach freien Gewerkschaften in der DDR - ein Artikel aus dem 'Neuen Deutschland‘

Ein Wort nicht nur in eigener Sache: Daß ich bei der Berliner Demonstration am 4.November den Text einer „Initiative für unabhängige Gewerkschaften“ vorgelesen habe, hat offenbar viele Gemüter erregt. Einen Kommentator der Aktuellen Kamera so heftig, daß er einen Rückfall in die Tierlaute der Stalinzeit („Grüppchen kochen Süppchen“) nicht vermeiden konnte. Auch der Theaterkritiker des 'Neuen Deutschlands‘ hielt es für nötig, der Welt mitzuteilen, daß ich kein Volksredner bin. Ich kann ihn beruhigen: Das war nie mein Berufswunsch. Ich glaube allerdings, daß seine Kritik an meiner „Demoreife“ mehr den Text als die Sprechtechnik meint. Mein Fehler: Ich hatte den strapazierten Begriff „Dialog“ so verstanden, daß er niemanden ausschließen sollte. Als mir am Fuß der improvisierten Tribüne eine Welle von Haß entgegenschlug, wußte ich, daß ich an Blaubarts verbotene Tür geklopft hatte, die Tür zu dem Zimmer, in dem er seine Opfer aufbewahrt. (Pfeif- und Buhkonzerte sind ja eher der selten erfüllte - Traum eines Theaterautors: Das Publikum zeigt Wirkung.) „Das war billig“, sagte zwischen den Zähnen ein älterer Ordner.

Inzwischen weiß ich, daß der Mann recht hatte. Wenn man die Forderung der Initiative für unabhängige Gewerkschaften an den Privilegien mißt, die Funktionäre nicht nur des FDGBs (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, d.Red.) sich herausgenommen haben, sind sie eher bescheiden, die Sorgen um die Zukunft, die der Aufruf formuliert, bei dem maroden Zustand unserer Ökonomie allzu verständlich. Die feudalsozialistische Variante der Aneignung des Mehrwerts, Ausbeutung mit anderen Mitteln, ist die Konsequenz aus der Stalinschen Fiktion des Sozialismus in einem Land, deren Realisierung zur Kolonisierung der eigenen Bevölkerungen in den osteuropäischen Ländern geführt hat. Das Volk als Staatseigentum, eine Leibeigenschaft neuen Typs.

Ich zweifle, ob gerade dem FDGB, der bislang die Interessen von Staat und Partei vertreten hat, das Münchhausenstück gelingen wird, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen; ich meine, er braucht Hilfe, das heißt Konkurrenz. Das Dogma von der führenden Rolle der Staatspartei in allen Bereichen hat zur Stagnation geführt, zum Prinzip der negativen Auslese: Gesinnung vor Leistung, Sicherheit vor Produktion, zur Diktatur der Inkompetenz. Marx sprach von der Dummheit, die noch schreckliche Tragödien aufführen wird. Die Tragödie des Sozialismus ist die Trennung von Wissen und Macht. Der Niedergang eines Gemeinwesens beginnt mit dem Verfall der Sprache. Wo die Benennungen nicht mehr greifen, greift keine Praxis. Das Leben in der Phrase statt auf dem Boden der Tatsachen hat zur einzigen Überschußproduktion in unserer Mangelwirtschaft die Produktion von Staatsfeinden gemacht, die den Mangel reproduziert. Wir haben unsern Staat nicht für die Geschichte gebaut, sondern für die Statistik. Jetzt schreitet die Geschichte auf den Füßen einer riesigen Mehrheit über die Statistik hinweg. Der Prozeß ist revolutionär, vielleicht die erste Revolution in Deutschland, das Tempo ist schwindelerregend, eine sozialistische Revolution ist es nicht und kann es, nach Jahrzehnten stalinistischer Perversion des Sozialismus, nicht sein. Freie Wahlen sind notwendig, aber die konkrete Analyse der konkreten Situation sollte ihre Bedingung sein. Mit der Forderung nach UNO-Kontrolle unterschätzen die demonstrierenden Massen ihre Macht, uns aus dem Elend zu erlösen / das können wir nur selber tun.

Daß mein Verhältnis zu freien Wahlen nicht ungebrochen ist, hat mit meinem Geburtsjahr zu tun: Im Gegensatz zu Lenin konnte Hitler seinen Staatsstreich auf einen Wahlsieg gründen, insofern ist auch Auschwitz ein Resultat von freien Wahlen, und ich bezweifle, ob es in der BRD unter dem Diktat der Industrie freie Wahlen je gegeben hat. „Das Kapital ist schlauer / Geld ist die Mauer“, lese ich auf einem Westberliner linken Flugblatt. Meine Sorge: daß die Massen, die aus dem Schatten Stalins mit einem Jahrhundertschritt herausgetreten sind, im Rausch der Freiheit diese Mauer, die durch die Welt geht, aus den Augen verlieren. Meine Hoffnung, daß die SED besser ist als ihre Führung (deren Hauptschuld die Unterdrückung des intellektuellen Potentials der Basis) und von der Straße lernt, daß Bewegung von unten ausgeht, Erstarrung von oben, und überlebt als eine andre Partei, vielleicht nicht durch Einheit. Lenins Fraktionsverbot, für Machterhaltung gegen die Fortsetzung der Revolution, die nur ein Prozeß sein kann und kein Besitzstand, ist der Virus, der die kommunistischen Parteien seit siebzig Jahren schwächt. Was jetzt gebraucht wird, ist nicht Einheit, sondern die Ausformulierung der vorhandenen Differenzen, nicht Disziplin, sondern Widerspruch, nicht Schulterschluß, sondern Offenheit für die Bewegung der Widersprüche nicht nur in unserem Land. Ohne die DDR als basisdemokratische Alternative zu der von der Deutschen Bank unterhaltenen Demokratie der BRD wird Europa eine Filiale der USA sein. Wir sollten keine Anstrengung und kein Risiko scheuen für das Überleben unserer Utopie von einer Gesellschaft, die den wirklichen Bedürfnissen ihrer Bevölkerung gerecht wird ohne den weltweit üblichen Verzicht auf Solidarität mit anderen Völkern.

Ich bin kein Wortführer einer Bewegung. Entscheidend ist, daß endlich die Sprachlosen sprechen und die Steine reden. Der Widerstand von Intellektuellen und Künstlern, die seit Jahrzehnten privilegiert sind, gegen den drohenden Ausverkauf wird wenig ausrichten, wenn ein Dialog mit der lange schweigenden Mehrheit der jahrzehntelang Unterprivilegierten und im Namen des Sozialismus Entrechteten nicht zustande kommt.