Terminus „Sozialdemokrat“ ist noch psychologische Barriere

Am vergangenen Wochenende tagte die „Allunionskonferenz der Parteiclubs zur Gründung einer demokratischen Plattform der KPdSU in Moskau / Ein Gespräch über die Ziele der Bewegung mit dem Vorstandsmitglied Igor Tschubais  ■ I N T E R V I E W

taz: Wieviele kritische Kommunisten haben sich heute hier versammelt?

Igor Tschubais: Es müssen über 800 sein, aber so genau wissen wir das nicht, weil diese Konferenz, wenn sie sich auch „Parteikonferenz“ nennt, nicht von uns, sondern von unten organisiert wurde. Wir haben Einladungen an eine überschaubare Zahl von Klubs und Organisationen geschickt und haben uns dann selbst gewundert, wie schnell diese nach dem Schneeballverfahren an gleichgesinnte Adressaten weitergegeben wurden. Fast das ganze Land ist hier vertreten, wenigstens über 100 Städte.

Es gab gestern Proteste gegen die Bezeichnung „Allunionsverband“ für ihre Organisation, weil dies antiföderalistisch sei.

Die Betonung liegt nicht auf dem territorialen Prinzip und nicht auf unserer nationalen Herkunft, sondern auf den Werten, die uns innerhalb der Sowjetunion verbinden. Ich glaube, daß wir alle hier die Idee des demokratischen Sozialismus teilen, und wir wissen, daß dies eine der klassischen Grundsätze der Sozialdemokratie ist. Dabei organisieren wir uns nicht von einem Unions-Zentrum nach unten, sondern jede einzelne lokale Organisation hat das Recht, ihren eigenen Standpunkt einzubringen.

Teilen alle Anwesenden die auf dem Treffen geäußerte Forderung des Historikers Jurij Affanassjews, sich vom Leninschen Prinzip der Partei loszusagen?

In dieser Frage herrscht keine Einigkeit. Ich selbst glaube zum Beispiel, daß Lenin eher Opfer einer historischen Tragik als eines falschen Prinzips wurde. Die Diskussion ist hier noch nicht beendet.

Wenn ihre Ausgangspositionen sozialdemokratisch sind, warum bezeichnen Sie sich überhaupt noch als „Kommunisten“?

Weil wir uns in einer Übergangsphase befinden, die eben ihre Zeit braucht. Das Unwissen ist eine der stärksten Waffen der Bürokratie, und hier bei uns sind sehr viele Leute mit den Traditionen und Ideen der Sozialdemokratie noch überhaupt nicht bekannt. Zudem galt der Terminus „Sozialdemokrat“ als solcher sehr lange als Schimpfwort. Und man muß den Leuten die Gelegenheit geben, erst eine gewisse psychologische Barriere zu überwinden, ehe sie sich selbst als „Sozialdemokraten“ bezeichnen können .

Die Bezeichnung „Kommunisten“ wäre also rein taktisch?

Sie ergibt sich logisch aus der Bezeichnung der Partei, der wir alle hier angehören. Ich verstehe die Leute, die aus dieser Partei austreten, nur zu gut. Wenn aber alle Demokraten sie verlassen, dann bleiben nur die Kusmitschs und Andrejewitschs in ihr (zu deutsch etwa: Schmidts und Meyers), also die Spießbürger. Was die Träger dieser Namen um Gotteswillen nicht persönlich nehmen sollen. Mit einem Wort: Man muß in der Partei arbeiten!

Wie soll Ihre Zusammenarbeit mit den anderen progressiven gesellschaftlichen Kräften aussehen?

Ich glaube, daß sich der Mechanismus des runden Tisches, der sich in Polen bewährt hat und jetzt in der DDR und Bulgarien praktiziert wird, auch für uns eignet.

Was sind Ihre nächsten Ziele?

Ich persönlich möchte gern einmal ausschlafen, was mir drei Monate lang nicht gelungen ist. Wenn Sie aber von uns allen hier sprechen, heißt das, uns zu einer effektiven politischen Kraft zu organisieren, die auf die politischen Prozesse, vor allem innerhalb der Partei, einwirken kann.

Erhoffen Sie sich einen Einfluß auf das Plenum des Zentralkomitees?

Leider hat kein einziges Mitglied des ZK, des Politbüros und kein einziger Parteisekretär einer Großstadtorganisation unser Treffen besucht. Aber ich denke, daß die Leute dort das Zustandekommen unseres Kongresses in ihrem Bewußtsein verarbeiten werden, ebenso wie seine Materialien.

Bei uns im Westen meinen politische Beobachter, daß die Mehrheit auf dem nächsten Parteitag umso konservativer sein wird, je länger er hinausgezögert wird, teilen Sie diese Ansicht?

Nein, letzten April habe ich selbst in Briefen an das ZK einen außerordentlichen Parteitag gefordert. Hätte er aber damals stattgefunden, wäre es ohne Zweifel ein konservativer Parteitag geworden. In den acht Monaten seither hat aber die Idee eines außerordentlichen Parteitages in vielen Grundorganisationen eine Mehrheit gefunden. Sollten aber die Wahlen zu diesem Parteitag auf alte Art stattfinden, dann wird dies der letzte Parteitag der KPdSU. Die Kommunisten werden sich massenweise von der Apparat-Partei abwenden und ihre eigene Partei gründen. Vor ein paar Monaten hatte der Moskauer Parteiklub nur wenig über hundert Mitglieder. Aber die Deputierten hier vertreten schon Zehntausende.

Fürchten Sie nicht, daß der Bürgerkrieg im Kaukasus den rechten Kräften Oberwasser verschafft?

Ich fürchte mich selten vor etwas, weil ich die Dinge einfach so nehme, wie sie kommen. Aber natürlich überschreitet das, was dort abläuft, den Nationalitätenkonflikt. Das ist eine eigentümliche politische Machtprobe, der Versuch der Herrschenden, die dortigen gesellschaftlichen und bürgerlichen Prozesse ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Es geht um das politische Primat, nicht nur in Baku und Eriwan, sondern auch in Moskau.

Könnte infolgedessen ein Bürgerkrieg auf Rußland übergreifen?

Ich glaube nicht, daß die Bevölkerung bei uns so leicht für einen Krieg jeglicher Art zu begeistern ist. Meine Informationen sind nicht zu hundert Prozent bestätigt, aber ich habe gehört, daß nach der Einberufung von Reservisten für den Kaukasus über 15 „Narkomate“ (d.h. die zuständigen militärische Stellen) aus Protest im ganzen Land zertrümmert worden sind. Wir als Kommunisten müssen auch folgenden Bewußtseinswandel verkraften: Letzte Woche haben Tausende in Moskau mit der Demokratischen Union gegen den Genozid an den Armeniern demonstriert. Früher haben die Leute das Erscheinen von Spezialeinheiten undefinierbarer Zugehörigkeit bei solchen Gelegenheiten gleichmütig entgegengenommen. Diesmal schrien sie erst „Faschisten, Faschisten!“ Als dann aber eine einzelne Stimme den Slogan änderte und rief: „Nein, das sind Kommunisten“, schrie die Menge: „Kommunisten, Kommunisten!“

Interview: Barbara Kerneck