Die DDR-Gewerkschaften im Umbruch

In einer Woche findet in der DDR der FDGB-Kongreß statt / Neues Selbstverständnis der Gewerkschaften / Streikrecht gefordert / Bisher 80.000 Arbeitslose / Zentraler Gewerkschaftsapparat wird auf 20 Prozent reduziert / Hilfe kommt von der IG Metall (West)  ■  Aus Ost-Berlin Walter Süß

Berlin (taz) - In den gleichen Saal des schmucken FDGB -Palastes am Märkischen Ufer in Berlin-Mitte, der am 9.Dezember vergangenen Jahres Zeuge des Rücktritts des gesamten Gewerkschaftsvorstandes geworden war, lud gestern das Vorbereitungskomitee für den Außerordentlichen Gewerkschaftstag Ende Januar zu einer Vorinformation. Die Krise der SED hat auch die bisher von ihr bevormundeten Gewerkschaften in gewaltige Schwierigkeiten gestürzt. Unumwunden spricht Peplowski, Vorsitzender des 33köpfigen Komitees, davon, daß „das Vertrauen der Kollegen in die Gewerkschaften gebrochen“ sei. Allerdings - so behaupten die Gewerkschaftsfunktionäre - könne von Massenaustritten bisher nicht die Rede sein. „Nur“ 800.000 von 9,6 Millionen Mitgliedern hätten bis Ende November '89 die Gewerkschaften verlassen. Neuere Zahlen gebe es nicht. Eine deutlichere Sprache spricht die Finanzlage: Die Einnahmen aus den Beiträgen (bislang 1,2 Mrd. Mark) sind um ein Viertel gesunken. Noch kann der FDGB das finanziell verkraften, verfügt er doch über ein Vermögen von 4,2 Mrd. Mark. Nur: „Dieses Geld arbeitet nicht“, bedauert Peplowski.

Anders als die SED-PDS werden die Gewerkschaften durch die aktuelle politische Entwicklung nicht überflüssig - im Gegenteil. Mit dem Abbau von Subventionen und der Durchsetzung von Marktbeziehungen sowie mit dem erwarteten Hereinströmen ausländischen Kapitals gewinnt die kollektive Interessenvertretung an Bedeutung. Ob sie freilich von diesen Gewerkschaften organisiert werden und ob sie das dafür notwendige Vertrauen der Beschäftigten zurückgewinnen kann, muß sich erst noch erweisen. Vom Dachverband zu Einzelgewerkschaften

Der Vorbereitungsausschuß, der als eine Art Notvorstand den Gewerkschaftsbund bis zum Kongreß leitet, hat dafür eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet. Eindeutig ist das Bestreben, das Schwergewicht gewerkschaftlicher Tätigkeit vom Dachverband FDGB auf die Einzelgewerkschaften zu verlagern. Der hauptamtliche Apparat des DFGB soll - so IG -Metall-Chef Hartwig Bugiel - um 80 Prozent reduziert werden, 2.000 KollegInnen werden umgeschult, in die Einzelgewerkschaften versetzt oder entlassen. Gerade die IG Metall der DDR ist zudem bemüht, sich die Erfahrungen ihrer bundesdeutschen Schwesterorganisation zunutze zu machen. DDR -Gewerkschafter werden zu Schulungen und Volontariaten der IG Metall (West) geschickt, damit sie sich das Know-how von Interessenvertretung in einer Marktwirtschaft aneignen.

„Große Sorge“ bereiten den DDR-Gewerkschaftern - so ihr Interimsvorsitzender Peplowski - die „Forderung nach Betriebsräten“, die offenbar in vielen Betrieben aus Enttäuschung über die alte Gewerkschaft erhoben wird. Neben organisatorischem Eigeninteresse spielt bei dieser Sorge offenbar vor allem auch die Erwartung eine Rolle, daß die Verdrängung der Gewerkschaften aus den Betrieben zu einer Spaltung und Schwächung der DDR-Arbeiterschaft führt.

Die Angst vor der Perspektive eines „Billiglohnlandes DDR“ dürften sie mit vielen KollegInnen in DDR und BRD teilen, deshalb stärkt ihnen die IG Metall (West) in dieser Frage auch den Rücken. Bei aller Bereitschaft, im Westen zu lernen, scheint zudem den DDR-Gewerkschaftern gerade das bundesdeutsche Betriebsverfassungsgesetz wenig attraktiv: Interessenorgane der Belegschaften, die auf die Bewahrung des „Betriebsfriedens“ verpflichtet sind, möchten sie nicht auch noch neuerlich installieren. Streikrecht gefordert

Das sich wandelnde Selbstverständnis der DDR-Gewerkschaften schlägt sich auch darin nieder, daß sie in einem auf der Pressekonferenz vorgestellten Entwurf eines Gewerkschaftsgesetzes ein Streikrecht fordern. Der FDGB plant, nach dem Kongreß eine Streikkasse aufzubauen, denn gerade in Auseinandersetzung mit ausländischem, in Joint -ventures engagiertem Kapital seien lokale Streiks wohl unvermeidlich, so Hartwig Bugiel.

Ein ungewohnter Aufgabenbereich für die DDR-Gewerkschaften ist die Vertretung der Interessen der Arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit bedrohten KollegInnen. Gegenwärtig gebe es, so wurde erklärt, in der DDR 80.000 bis 85.000 Arbeitslose. Dabei handelte es sich bisher um besondere Berufsgruppen: ehemalige Stasi-Mitarbeiter, Beschäftigte aus dem Apparat der SED und auch des FDGB. Doch dabei wird es, wenn die Rationalisierung der Wirtschaft erst richtig beginnt, nicht bleiben. Die Gewerkschaften fordern deshalb von der Regierung die Einrichtung einer Arbeitslosenversicherung. Weitere Forderungen sind eine stärkere Einbeziehung der Gewerkschaften beim Abbau von Subventionen und entsprechenden Ausgleichszahlungen. Und die Gewerkschaften möchten auch bei Vereinbarungen über Joint-ventures mittels der Betriebsgewerkschaftsleitungen einbezogen werden. Dem Zentralvorstand der jeweiligen Einzelgewerkschaft solle ein Vetorecht bei Joint-venture-Vereinbarungen eingeräumt werden.

Der ab kommenden Mittwoch stattfindende Gewerkschaftskongreß wird Aufschluß darüber geben, ob es den im FDGB zusammengfaßten Gewerkschaften gelingt, eine neue Funktion in der Gesellschaft und eine neue Identität zu gewinnen. Daß die abhängig Beschäftigten in der DDR in den kommenden Monaten und Jahren starke Interessenvertretungen bräuchten, dürfte außer Frage stehen.