Ausnahmsweise Freispruch in Kurdistan

Die Soziologin Hella Schlumberger seit gestern wieder auf freiem Fuß / Staatsanwalt konnte keine Propagandaabsichten feststellen / Bundesregierung und Medien hatten gegen ihre Verhaftung protestiert  ■  Aus Diyarbakir Ömer Erzeren

Wahn der politischen Justiz: Eine deutsche Touristin fährt in die südöstliche Provinzstadt Birecik. Birecik ist berühmt wegen seiner Waldrappen aus der Familie der Ibisse. In Birecik machen die Waldrappen Zwischenstation. Hier befindet sich ein Vogelzentrum, das versucht, die vom Aussterben bedrohte Waldrappe zu züchten. Die Soziologin Hella Schlumberger macht am 29.Dezember einen Eintrag ins Gästebuch des Vogelzentrums. „Nieder mit Voliere (Vogelkäfig). Es lebe eine freie Türkei mit einem gleichberechtigten Kurdistan.“ Polizisten, die die alleinreisende Frau seit Tagen beschatteten, schöpfen Verdacht. Wegen des Eintrags erläßt der Staatsanwalt in Birecik Haftbefehl. Gegen die Gästebuchtäterin, die mittlerweile Birecik verlassen hat, wird landesweit gefahndet. Am 10.Januar wird sie gefaßt und verhaftet. Anklage aufgrund des Paragraphen 142/3 des türkischen Strafgesetzbuches. Fünf Jahre Gefängnis fordert die Anklage wegen „separatistischer Propaganda“. Der Straftatbestand „Propaganda zur Zerstörung oder Schwächung der Nationalgefühle“ sei erfüllt. Das Wort Kurdistan wird der Deutschen zum Verhängnis.

Der Eklat: Bundesaußenminister Genscher protestiert bei dem türkischen Staatsminister Ali Bozer. Jetzt darf aufgeatmet werden. Hella Schlumberger wurde gestern von dem Staatssicherheitsgericht Diyarbakir freigesprochen.

Ein Dutzend Pressefotografen, ein Kamerateam der ARD, ein Vertreter der deutschen Botschaft, eine grüne Bundestagsabgeordnete sind am letzten Prozeßtag anwesend. Schlumberger kann zufrieden sein.

Das Gericht läßt ihr und den Pressefotografen die Show. Selbst als kurzzeitig die Sicherungen des Gerichtsgebäudes durchbrennen - das Kamerateam filmt mit starker Beleuchtung im Gerichtssaal - zeigt sich der Vorsitzende Richter Tekin Günel gelassen. Der Gerichtsbedienstete wird angewiesen, mit Propangas-Leuchtern den Saal zu erhellen. Hie und da wirft der Prozeß ein Licht auf die Repression in den kurdischen Regionen der Türkei. Etwa, wenn der Zivilpolizist Hasan Fatih Dokur im selbstverständlichen Ton über die Beschattungsmethoden als Zeuge vernommen wird. „Sie fiel uns auf der Straße auf, weil sie als Frau alleine war. Wir ermittelten, daß sie im Hause des Salih Öztürk wohnte, und verfolgten sie heimlich im Vogelzentrum Birecik.“ „Wir bringen das Gästebuch des Vogelzentrums von Zeit zu Zeit auf die Polizeiwache, um zu prüfen, was drin steht“, sagt der Polizist Yakop Karaca in strammer Haltung als Zeuge vor Gericht. Die Angst steckt dem Zeugen Ibrahim Özbay, dem Wärter der Vogelstation, im Nacken, als er in gebrochenem Türkisch vor Gericht aussagt, was ihm Schlumberger nach ihrem deutschen Eintrag anvertraute: „Sie sagte, Kurden und Türken zusammenleben gut. Da habe ich gesagt: 'Es gibt keine Kurden. Alle in der Türkei sind Türken.'“ Väterlich vernimmt der Vorsitzende Richter die Zeugen.

Die Angeklagte Schlumberger ist keine einfache Touristin. Sie nahm im Dezember an Veranstaltungen des Vereins für Menschenrechte in Ankara anläßlich des 42.Jahrestages der Verabschiedung der Menschenrechtskonvention teil. In Kurdistan interviewte sie verschiedene Personen - Material, das beschlagnahmt wurde. „Ich will sagen, daß ich grundsätzlich die Gewalt nicht für ein Mittel zur Lösung der Probleme der Zukunft ansehe. Bei gutem Willen kann man durch Dialog viel erreichen. In der Türkei gibt es ökologische Probleme. Wir müssen den Globus retten“, ist das letzte Wort der Angeklagten.

Ob die politisch Interessierte Schlumberger darüber nachdenkt, daß die Personen, die sie kontaktierte, nicht durch ihren Eintrag in Schwierigkeiten kommen? Ob sie weiß, daß vergleichbare türkische Angeklagte monatelang ohne Prozeß in Untersuchungshaft sitzen? Zu Recht sprach der stellvertretende Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakir, Hüseyin Tayfun, von zweierlei Maß.

Schlumberger sah es zumindest nicht als problematisch an, den Fahrschullehrer Salih Öztürk, den sie zufällig kennengelernt hatte, in seinem Dorf nahe Birecik anzurufen und ihm ihre Ankunft mitzuteilen. Öztürk hatte ein Hotel für sie reserviert. „Aber sie sagte, daß sie lieber bei mir zu Hause übernachten will“, sagt der Zeuge Öztürk, der Vorsitzender des Menschenrechtsvereins in Urfa ist. „Wir sind ein gastfreundliches Volk, ich habe natürlich ja gesagt.“ Schlumberger ist eben Europäerin, die am Leid der Kurden interessiert ist. Nähe am Objekt ist da von Vorteil.

Der Staatsanwalt plädiert auf Freispruch. Propaganda diene dem Zweck, Gedanken zu verbreiten, um Anhänger zu finden. Durch den Eintrag ins Gästebuch könne nicht von Propaganda die Rede sein. Die ausführlichen Reden der Verteidiger Fethi Gümüs und Mustafa Özer, die den Prozeß in einen politischen Kontext einordnen, werden nur mit ein paar kurzen Sätzen im Gerichtsprotokoll vermerkt. Das Gericht schließt sich den Worten des Staatsanwaltes an: „Freispruch für Schlumberger.“