Der Euro-Dok-Film?

■ Das Europäische Dokumentarfilm-Institut in Mülheim

Europa hat schon ganz andere Dinge verkraftet als den Euro -Film. Aber die Tendenz, die ganze Vielfalt europäischer Lebensgefühle und Wirklichkeiten auf den gemeinsamen Nenner zu bringen, der zwar nicht vorhanden ist, aber um so lieber konstruiert wird, führt zu recht possierlichen Filmen standardisierte Abzüge bekannter Klischees: Der Brite trinkt Tee und wohnt in Tudor-Schlössern, der Franzose zwirbelt den Schnurrbart und pult sich kleine Klumpen aus dem Baguette, der Italiener fährt im Designer-Jackett Vespa, und niemand mag den Bösewicht spielen.

Die Euro-Spielfilm-Produktion liefert also berechenbare Ware mit einer beziehungsreichen Phantasielosigkeit, die mehr aussagt über die Zukunft des Gebildes Europa als jede Studie aus Brüssel. Die Strategie der Gemeinsamkeiten hat bisher nur den Spielfilm erfaßt, deren Verfechter so gern gegen die amerikanische Kulturinvasion wettern, daß sie dabei völlig übersehen, wie in der alten Welt selbst eine Version der Traumfabriken im Entstehen begriffen ist, der eine Schablone zugrundeliegt: das Euro-Klischee.

Und der Dokumentarfilm? Wird auch er von dem gleichmacherischen Gedanken, jede nationale Eigenart ins Euro-Korsett zu pressen, erfaßt? Der Dokumentarfilmer Christoph Hübner glaubt nicht, daß eine Europäisierung der Filmlandschaft auch Einfluß auf das dokumentarische Arbeiten haben wird: „Der Dokumentarfilm ist nicht so aufwendig produziert und näher an der Wirklichkeit, man kann ihn schlecht in verschiedenen Sprachen drehen, deshalb ist dieses Euro-Konzept für den Dokumentarfilm keine Gefahr.“ Da man sich vom Euro-Virus nicht infiziert glaubte, gab es auch keine Bedenken, sich das Etikett „Europäisch“ anzuheften, als 1988 das Europäische Dokumentarfilm-Institut (EDI) gegründet wurde. Um das Attribut war auch gar nicht herumzukommen, schließlich schöpfte das Institut Mittel des Europäischen Film-und Fernsehjahres ab. Ein Europäisches Dokumentarfilm-Institut also. Für Euro-Dok-Filmemacher etwa?

Daß von dem Institut - es hat seinen Sitz neben dem Filmbüro Nordrhein-Westfalen in Mülheim an der Ruhr - bis heute nur wenig an die Öffentlichkeit gedrungen ist, mag daran liegen, daß die Initiatoren selbst überrascht waren, als das Projekt konkrete Formen annehm. Christoph Hübner, einer der Mitbegründer, gibt zu, daß das Institut sehr „blauäugig“ entstand, weil da zunächst vor allem die Möglichkeit bestand, an Mittel zu kommen, die den Dokumentarfilmern sonst verschlossen waren. „Einfach mal eine Utopie zu beschreiben, das war es am Anfang“, sagt Hübner, dann war die Utopie plötzlich der offizielle Beitrag der Bundesrepublik zum Europäischen Film- und Fernsehjahr, und alles wurde ernst.

Was Wunder, daß man sich erst nachträglich die Legitimation bei den Filmemachern anderer Länder holte. Die EDI-Gründer mußten die leicht verschnupfte Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm, die eine Konkurrenz befürchtete, erst beruhigen und dann integrieren und schließlich vierzehn weitere Länder davon überzeugen, das Europäische Dokumentarfilm-Institut zu gründen. Inzwischen hat sich das von hinten aufgezäumte Pferd warmgelaufen. Nachdem die SPD -Fraktion im Landtag sich davon überzeugt hatte, einen Brillanten für das Krönchen des noch zu entwickelnden Filmlandes NRW vor sich zu haben, brachte sie im Haushalt 1990 einen Etat von 1,3 Millionen DM ein und durch. Jetzt kann das EDI beweisen, daß nicht alles Makulatur ist, was es bisher in seinen Papieren versprach.

Das EDI will mit seiner Arbeit sechs Bereiche abdecken. Im Archiv katalogisieren die Mitarbeiter des Institutes alle bedeutenden Dokumentarfilme des europäischen Raumes. Der eigene Filmstock soll sich zunächst auf VHS-Kopien aufbauen, denn msn eill nicht in Konkurrenz zu bestehenden Archiven treten oder Filme von anderen Stellen abziehen.

Neben der Datenbank legt das EDI einen Schwerpunkt auf die „wissenschaftliche Begleitung und Auswertung des europäischen Dokumentarfilmschaffens“ sowie auf die Aus- und Weiterbildung in der beruflichen Praxis. Man denkt auch daran, eine Abteilung Produktion einzurichten, allerdings sollen hier vor allem Filmprojekte koordiniert und unterstützt werden. Darüber hinaus will das EDI den grenzüberschreitenden Vertrieb der Filme fördern, indem es Information über die Verleihbedingungen und die Filmförderung in den einzelnen Ländern weitergibt. Dazu erscheint das periodisch herausgegebene Magazin 'Bulletin‘, das die Mitglieder in englischer und deutscher Sprache auf dem Laufenden hält.

Ob das Mülheimer Institut da ein Bedürfnis entdeckt hat, das tatsächlich existiert, oder eines, das künstlich geweckt werden muß, bleibt abzuwarten. Christa Maria Klein, die damit beauftragt wurde, „die Vision von einem EDI zu realisieren“, gibt zu, daß der Bekanntheitsgrad bei den Filmemachern derzeit gegen Null strebt: „Die Gefahr besteht natürlich, daß das EDI etwas losgelöst von der Basis dahinschwebt. Es ist letztlich eine Vertrauensfrage, ob man uns zutraut, daß andere Ideen und andere Vorstellungen berücksichtigt werden bei der inhaltlichen Entwicklung.“

Bisher ist das Institut von den deutschen Dokumentarfilmern dominiert; unter den 24 Unterzeichnern der „Mülheimer Erklärung“ zur Gründung des Institutes sind allein neun Deutsche, die anderen Länder sind nur einmal vertreten. Mit deutscher Gründlichkeit hat die Sektion Bundesrepublik rasch die Institutionalisierung des Vereins durchkonjugiert: Arbeitsausschüsse, ein nationaler Beirat, ein europäischer Arbeitskreis. Die Infrastruktur der Bürokratie stimmt, bevor der Apparat überhaupt in Gang kommt, und ist ganz auf Brüssel abgestellt - ein Zimmer im „europäischen Haus“ mit Aussicht auf viel Papierkrieg.

Von der „Vision“ einer übergreifenden Organisation der bisher verstreut arbeitenden Filmemacher will Christoph Hübner sich so schnell nicht verabschieden: „Das Abstraktum Europa von einem Phantom zu etwas Konkretem werden zu lassen ist sehr schwer“, aber EDI „wird an seinen Projekten wachsen“.

Wer auf das Geld der europäischen Gremien schielt, muß sich dem offiziellen Habitus des Milieus annähern. Dadurch verschließt sich aber ein Kreis von potentiellen Interessenten, die einen grenzüberschreitenden Austausch mindestens genauso nötig hätten wie die etablierten Filmemacher, die bisher angesprochen wurden: staatsferne und oppositionelle Dokumentaristen werden ausgegrenzt bleiben, solange das Institut Verhandlungen mit staatlichen Stellen führt. So sind aus den osteuropäischen Ländern im EDI bisher nur Dokumentarfilmer vertreten, die bei ihren Regierungen wohlgelitten waren, und zwar vor der Wende. Eine Öffnung gegenüber Oppositionellen und Avantgardisten wird wahrscheinlich auf sich warten lassen, bis die Reformbewegungen in Osteuropa eine wirkliche Änderung der alten Gesellschaftsstrukturen erzwungen haben.

Vielleicht will das EDI auch gar nicht aus den verkrusteten Strukturen der alten europäischen Ordnungen ausbrechen. Die vom Institut vorgeschlagenen Filmprojekte - eine Querbeet -Dokumentation zu den Anfängen des Dokumentarfilms, Episodenfilme zu den Themen Kriegsende, Auto, die Frauen Europas, Wasser, Europa - unser Haus usw. - sind so originell, daß sie entweder aus dem Herzen eines sozialdemokratischen Kulturausschußmitgliedes stammen könnten oder aber eilig aufgesetzt wurden, um den Eindruck zu vermeiden, bisher noch gar nichts Inhaltliches von sich gegeben zu haben.

Beim Durchblättern der ersten Nummer des 'EDI-Bulletins‘ fällt auf, daß viel über Strukturen, EG-Richtlinien, „grenzüberschreitende Synergien“, Festivals und Fakten über Filme, jedoch nichts über ästhetische, theoretische und formale Aspekte des Dokumentarfilms gesagt wird. Nun, es ist sicher wichtiger, die Vorsilbe „Euro“ zu hegen und zu pflegen, zum Antichambrieren nach Brüssel zu fahren, Arbeitskreise und Ausschüsse zu gründen und zu besetzen sowie Symposien auszudenken und abzuhalten. Da geht das Jahr schnell herum. Immerhin hat es nur zwölf Monate gedauert, bis ein erstes Lebenszeichen vom EDI kam. Vielleicht hören wir bald wieder etwas aus Mülheim.

Christoph Boy