Israels Frieden mitten im Krieg

■ Mehr als zwei Jahre Intifada haben die israelische Gesellschaft unmerklich verändert / Der Krieg gegen die Palästinenser in Westbank und Gaza-Streifen ist für die meisten Israelis weit entfernt / Nur wenige verlangen das Ende der Besatzung

Klaus Hillenbrand

Um die blumenbepflanzte Mitte des Platzes nahe der großen Jerusalemer Synagoge haben 50 Frauen einen Kreis gebildet. Um sie herum brandet das Verkehrsgewühl des Freitagmittags, wenn die Jerusalemer vor Beginn des Schabbat ihre Einkäufe für das Wochenende erledigen. Die Frauen tragen Trauer: schwarze Hosen, schwarze Hemden, schwarze Schuhe - und sie halten überdimensionale Silhouetten von Händen aus schwarzer Pappe in die Höhe. „Stoppt die Besetzung jetzt!“ steht in Englisch, Arabisch oder Hebräisch darauf. Der Protest gegen die Besetzung von Westbank und Gaza-Streifen geht in dem Lärm der bei jedem Lichtwechsel der Ampelanlagen anfahrenden Autos unter. Die Frauen stehen seit mehr als zwei Jahren jeden Freitagvormittag bei Regen im Winter und unter der gleißenden Sonne im Hochsommer.

Zwei Welten

Von der Jaffa Road in der Innenstadt Westjerusalems bis zum Damaskus-Tor im palästinensischen Osten der Stadt sind es vielleicht zwanzig Minuten zu Fuß. Jerusalem ist, darauf weisen die Stadtoberen immer wieder gerne hin, seit der israelischen Besetzung des Ostteils im Sechs-Tage-Krieg 1967 endlich wiedervereint. Schon im November 1967 beschloß eine Regierungskommission, die Grenzen Israels aus der Zeit vor 1967 von allen Landkarten zu tilgen. Seitdem markiert die Waffenstillstandslinie des Krieges die geographische Ausdehnung des Landes. Die alte Grenze ist weg, auf keiner Karte mehr verzeichnet. Doch obwohl es keine Mauer und keinen Stacheldraht gibt - die Trennungslinie ist mittlerweile wieder vorhanden. Früher fuhr man abends gerne nach Bethlehem zum Essen. Das ist vorbei, Bethlehem liegt in der Westbank und ist Intifada-Land. Im arabischen Suq geht kein Israeli mehr einkaufen - aus Angst.

„Zur Zeit schließen die Läden im Basar um 12 Uhr mittags“, teilt die Touristenbroschüre Diese Woche in Jerusalem lakonisch mit. Der Grund wird nicht verraten: Ab zwölf Uhr ist bei den Palästinensern Ladenstreik, zur Unterstützung der Intifada. Das Heft empfiehlt dem Besucher die Besichtigung der Altstadt in einer Gruppenführung. „Obwohl die Altstadt integraler Bestandteil Jerusalems ist“, wie es heißt. Die arabischen Andenkenhändler verzichten, ob freiwillig oder nicht, jeden Tag auf einen Teil ihrer Einnahmen. Die Cafes schließen gegen halb eins die eisernen Rolläden. Die hochwillkommenen Touristen aus aller Welt, die früher in Massen die Via Dolorosa, dem angeblichen Kreuzweg Christi, in Hundertschaften entlangpilgerten, bleiben aus. In Ostjerusalem ist die Intifada allgegenwärtig.

In der Fußgängerzone im jüdischen Westjerusalem werden urplötzlich hundert Meter Straße gesperrt. Militärangehörige bitten die Gäste auf den Stühlen vor den Kaffeehäusern höflich, aber bestimmt, ihren Platz auf der Stelle zu verlassen. Bombendrohung. Nach zehn Minuten ist alles vorbei, keine Bombe explodiert. Die Kaffeehausbesucher nehmen ihre Plätze wieder ein, die Schaufensterbummler setzen ihren Weg fort. Das Leben kann wie gewohnt weitergehen. Die Intifada und die besetzten Gebiete sind weit weg. Bombendrohungen und „verdächtige Objekte“ in Papierkörben gab es auch schon vor der Intifada.

Der palästinensische Aufstand findet nicht in Israel statt, sondern irgendwo weit weg. Die Israelis erfahren von den Opfern nicht aus erster Hand, sondern via Druckerpresse und Elektronik. Was da täglich abends über die Bildschirme flimmert, was der Radiosprecher stündlich ansagt oder was in der Zeitung morgens und abends zu lesen ist, könnte ebensogut in Rumänien, El Salvador oder Sri Lanka geschehen. Jedenfalls nicht zu Hause. Das staatliche Fernsehen gibt jeden Abend eine gebündelte Zusammenfassung über Steinewerfer, verletzte und tote Palästinenser und Gummigeschosse. Diese Nachrichten rangieren längst nicht mehr an erster Stelle. Und auch die Presse hat die Intifada von der Titelseite in den Innenteil verbannt.

Die Israelis haben sich an den Aufstand der Palästinenser gewöhnt, denn ihr Alltag bleibt davon unberührt. Bei Besuchern der „territories“, so die Umschreibung für die besetzten Gebiete, sind praktische Maßnahmen gefragt. Die Autos der Siedler sind wie die Omnibusse der „Egged„ -Gesellschaft mit Plastikfenstern gegen die Steinwürfe ausgerüstet. Beulen am Blech des Mercedes-Busses und gesprungene Seitenscheiben zeugen von Konfrontationen mit der Intifada. Trotzdem benutzt der „Egged„-Linienbus auf dem Weg von Jerusalem nach Tiberias natürlich immer noch die Abkürzung über Jericho durchs Jordantal. Niemand muß wegen des Palästinenseraufstands eine Stunde mehr für die Fahrt nach Hause einplanen.

Die „Frauen in Schwarz“ stehen auf der niedrigen Mauer, der Einfassung eines ovalen Blumenbeetes auf der Mitte einer Straßenkreuzung, und schweigen. Ihre Demonstrationen sind längst eine Institution geworden - und es sind mehr geworden. Ursprünglich gab es nur die Jerusalemer Gruppe, die mit Beginn der palästinensischen Intifada jede Woche einmal gegen die israelische Besatzung protestierte. „Jetzt“, so berichtet eine der Aktivistinnen, „gibt es 27 Gruppen im ganzen Land“. Sie demonstrieren in Tel Aviv und Haifa, an wichtigen Straßenkreuzungen und in Kibbuzim. Ohne Sprechchöre. Aber auch ohne Widerhall?

„Wir haben keinen Einfluß“

400.00 Menschen demonstrierten 1982 in Tel Aviv gegen den Libanon-Krieg Israels. Friedensbewegung, Arbeiterpartei und zahlreiche der „ganz normalen“ Israelis waren sich damals einig über einen raschen Rückzug und eine Beendigung des militärischen Abenteuers im nördlichen Nachbarland.

Zum zweiten Jahrestag der Intifada im letzten Dezember organisiert „peace now“ (Frieden jetzt) eine zentrale Demonstration in Jerusalem. Großformatige Zeitungsanzeigen warben für das Ereignis. Doch nur 5.000 Demonstranten zogen durch die Jerusalemer Straßen - und das wurde von „peace now“ sogar noch als Erfolg gewertet. Dabei ist „peace now“ noch die bei weitem größte Gruppe in der Friedensbewegung, die mit relativ moderaten Forderungen auftritt, um auch den Bürger auf der Straße ansprechen zu können. Der Friedensbewegung scheint die Luft ausgegangen zu sein.

„Wir haben keinen Einfluß“, meint kurz und bündig Rahel Freudenthal. Sie arbeitet in der Gruppe „Das 21. Jahr der Besetzung“. 2.000 Unterschriften haben die Mitglieder gegen die Besetzung und für Verhandlungen mit der PLO gesammelt. Doch heute gibt es nicht mehr als 60 bis 70 Aktive in der Gruppe. Viele haben den Dauerstreß von Aktionen und Protesten nicht ausgehalten und sich ins Privatleben zurückgezogen. Rahel Freudenthal ist dabeigeblieben. Kontakte zu Nachbarn und Freunden außerhalb der Friedensbewegung sind verkümmert oder abgebrochen. Ein Leben wie früher kann sie sich nicht mehr vorstellen. Die Gruppe hält, anders als die „große“ Friedensbewegung, engen Kontakt mit Palästinensern in den besetzten Gebieten, und sie pfeift darauf, wie man in der israelischen Öffentlichkeit auf ihre provokanten Aktionen am Rande der Legalität reagiert. Rahel Freudenthal möchte ein Gegenmodell zum israelischen Konsens aufbauen, der bislang auf militärischer Stäerke und Stolz auf das eigenen Land beruht. Sie will nicht länger auf den großen Umschwung in der israelischen Öffentlichkeit warten, sondern eine radikale Alternative schaffen und diese dann zur Wahl anbieten. Bis man in der Gruppe soweit ist, bleibt die Bedeutung vom „21. Jahr“ gering, und das weiß sie auch. „Unsere Bedeutung besteht darin, daß es uns gibt und daß wir Teil der israelischen Gesellschaft sind.“

So wie „Das 21. Jahr“ gibt es mindestens 50 kleine Gruppen links von „peace now“ - „Frauen für den Frieden“, „Frauen in Schwarz“, „Stoppt die Besetzung!“ „Mädchen in Schwarz“, „Jesch Gvul“ etc. Die Zersplitterung dieser radikalen Friedensbewegung wird von den Aktiven im allgemeinen nicht als Nachteil angesehen. So kann jede Gruppe die eigenen Aktionen verantworten und muß nicht erst lange Diskussionen führen, heißt es zur Begründung. Denn einige der Gruppen sind zum Bruch israelischen Rechts bereit, andere nicht. Einige beteiligen sich an Aktionen zum Schutz von Palästinensern in der Westbank, andere scheuen die strafrechtlichen Konsequenzen, wenn militärisches Sperrgebiet in den besetzten Gebieten betreten wird, um die Sprengung von Häusern angeblicher „Terroristen“ zu verhindern. Bei Demonstrationen von „peace now“ sind ohnehin alle dabei, auch wenn die „große Friedensbewegung“ ob ihres Opportunismus intern heftig kritisiert wird. Und Absprachen sind leicht, denn alles in allem, so schätzt Rahel Freudenthal, bringen es die radikalen Gruppen gerade auf rund 1.000 Menschen unter mehr als vier Millionen Israelis.

„Es gibt eine Chance“

„Jetzt mit der PLO über den Frieden sprechen!“ lautete eine der Parolen auf der Demonstration von „peace now“. Vor zwei Jahren wäre diese Forderung, so direkt und schnörkellos ausgedrückt, noch undenkbar gewesen. Nicht nur der linke Flügel, die ganze Friedensbewegung hat sich seit Beginn der Intifada radikalisiert. Auch „peace now“ unterhält Kontakte zu Palästinensern in den besetzten Gebieten. „Rückzug“, „Verhandlungen mit der PLO“ - solche Forderungen mögen im Ausland selbstverständlich erscheinen. In Israel sind sie es nicht. Seit 1967 haben die Militärs die Notwendigkeit der Besetzung der Westbank aus strategischen Gründen gepredigt Israel sei geographisch zu schmal. 20 Jahre wurde die PLO als der Inbegriff von Terror und Menschenverachtung gebrandmarkt. Die Argumente von Militärs und Politikern sind Teil des israelischen Konsenses. Ihn aufzubrechen heißt, zu verneinen, was zwei Jahrzehnte lang selbstverständlich war.

„Jesch Gvul“ bedeutet „Es gibt eine Grenze“. Die Mitglieder von Jesch Gvul sehen den Namen ihrer Organisation durchaus im doppelten Sinn seiner Bedeutung: Die Grenzen sind die Israels von 1967, und deshalb muß die Besatzung beendet werden. Ihre persönliche Grenze sehen die Aktiven als erreicht an, wenn sie zum Reservedienst in den besetzten Gebieten und damit zur aktiven Teilnahme an der Unterdrückung der Palästinenser gebracht werden sollen. Sie verweigern den Dienst und gehen, wenn der Staat sie nicht zum alljährlichen Dienst innerhalb der 67er Grenzen schickt, lieber ins Gefängnis. Rund einhundert Jesch-Gvul-Aktivisten haben für ihre Überzeugung schon die 30tägige Dienstzeit im Knast verbracht. Einer saß fast ein halbes Jahr im Gefängnis. Das Militär reagiert flexibel. Keineswegs alle Verweigerer werden zum Einsatz gegen die Palästinenser gezwungen, vielen erlaubt man stillschweigend den Dienst innerhalb der anerkannten Staatsgrenzen. Damit, so der 1935 in Berlin geborene Journalist und ehemalige Fallschirmjäger Guidon Spiro, will man verhindern, daß zu viel öffentlicher Wirbel um die Gruppe entsteht. Denn „wir sind nur die Spitze eines Eisbergs“, davon sind die Aktiven überzeugt. Viele Israelis erfänden kranke Großmütter, eigene Leiden oder begäben sich rechtzeitig außer Landes, um den Dienst in Westbank und Gaza-Streifen zu entfliehen. Sie verweigern nicht offen, meiden den Bruch des israelischen Konsenses, den auch „peace now“ nicht wagt. Ihre Mitglieder gehen trotz der Ablehnung der Besatzung als Besatzungssoldaten in die besetzten Gebiete. Das Militär zählt zu den tragenden Säulen der Gesellschaft, Kriegsdienstverweigerung ist legal nicht möglich. „Es war von Anfang an klar, daß wir nicht so schnell zu einer Massenbewegung werden“, meint Guidon Spiro. Eine ernsthafte Bedrohung für die IDF, die „Israelischen Verteidigungskräfte“, ist Jesch Gvul in den letzten Jahren denn auch nicht geworden. Aber ein Signal. Und vielleicht ein Ärgernis.

Die Westbank ist nicht Libanon

Warum haben 1982 400.000 demonstriert und heute maximal einige Tausend? Warum hat die Intifada keine Wende in der israelischen Öffentlichkeit bewirkt? Warum ist die Zahl derer, die für ein sofortiges Ende der Besatzung und für Verhandlungen mit der PLO eintreten, so klein geblieben? „Libanon war ein klarer Fall“, so Guidon Spiro von Jesch Gvul, dazu. „Der Krieg fand außerhalb Israels statt. Keiner hat Libanon als Teil Israels gesehen. Es war viel leichter, sich zurückzuziehen, weil es keine territorialen Forderungen gab.“ Der Libanonkrieg sei deshalb so unpopulär geworden, weil er schiefgelaufen sei, weil es kein „Blitzkrieg“ war, sondern eine lange Auseinandersetzung mit vielen Opfern auf israelischer Seite. „Libanon wurde, im Gegensatz zu Westbank und Gaza-Streifen, von niemandem als israelisches Territorium angesehen. Wir haben keine Siedler dort.“ Die Intifada ist dagegen ein ganz anderer Fall. Viele Israelis betrachten die besetzten Gebiete als einen Teil ihres Landes, auch ohne Annexion. Und schon heute leben dort an die 100.000 Israelis. Israel, so Spiro, „ist es gelungen, die Intifada mehr oder weniger zu kontrollieren. Die Verluste, die Israel im Libanon hatte, waren ein Katalysator zum Protest. Dieser Katalysator existiert jetzt nicht. Leider komme ich zu dem Schluß, daß sich wenig verändern wird, solange Israel keinen hohen Preis zahlen muß, solange die Intifada nicht auf das tägliche Leben einwirkt.“

Doch auf der anderen Seite ist auch unter Wählern des rechten Likud-Blocks Ungeduld zu spüren. Trotz Gummigeschossen, Knüppeln, Verhaftungen und Häusersprengungen lebt die Intifada. Wird es da nicht Zeit, einen anderen Weg, Verhandlungen gar, zu beschreiten? Ist doch das Militär offensichtlich nicht in der Lage, den Aufstand unter Kontrolle zu bringen, so wenig, wie es ihm gelang, im Libanonfeldzug die PLO zu liquidieren.

Gewaltförmige Aktionen der Palästinenser in Israel sind für die israelischen Politiker ein Alptraum, doch auch für die Palästinenser könnten sie selbstmörderisch sein: Den israelischen Hardlinern würden damit die Argumente dafür geliefert, mit ganz anderen Methoden als bisher gegen die palästinensische Bevölkerung vorzugehen. Spiro: „Explosivkörper, Autobomben wie im Libanon, tägliche Verluste der israelischen Armee und vielleicht auch in der Zivilbevölkerung - alles ist möglich. Doch das würde selbstverständlich zu ganz radikalen Vergeltungsmaßnahmen führen. Vor dieser Entwicklung habe ich Angst.“

Leben mit der Intifada

„Ihn schützen die 'Frauen in Schwarz'“ steht auf einem Plakat, das ein älterer Mann mit Halbglatze fünf Meter neben den Frauen in Jerusalem schwenkt. Unter der Aufschrift das Bild eines vermummten Palästinensers, der eine Steinschleuder zum Schuß bereitmacht. Der Mann redet ununterbrochen. „Wir wollen zeigen, daß sie nicht Israel repräsentieren“, sagt er mit Blick auf die „Frauen in Schwarz“. „Sie sind der Abschaum Israels. Sie tragen keine israelischen Flaggen. Sie glauben nicht an die Thora. Sie sind nicht Israel. Wir sind Israel!“

„Die Intifada könnte ein oder zwei Jahre lang weitergehen“, so Verteidigungsminister Rabin von der Arbeiterpartei in einem Gespräch mit der 'New York Times‘. Ein Problem sieht er darin nicht. „Die Soldaten mögen es nicht, aber sie verstehen, warum wir es machen müssen.“ Eine Milliarde Dollar hat die Intifada 1989 den Staat gekostet, 200 Millionen kassierte allein das Militär. Die Touristenzahlen stagnieren in den letzten zwei Jahren.

Das Land verändert sich unter der Oberfläche. In den Vorstädten Tel Avivs bröckelt der Putz von den Häusern. Die Bausubstanz zerfällt. Palästinensische Arbeiter fehlen. Gleichzeitig sind rund zehn Prozent der Israelis arbeitslos

-früher lag die Quote bei Null. Die Armut ist gewachsen, immer mehr Menschen können sich nur noch mit zwei Jobs über Wasser halten. Die Kriminalität hat zugenommen. Das Land ist hektischer, ungeduldiger, agressiver geworden, so meinen viele Israelis. Sicher, diese Entwicklungen mögen wenig mit der Intifada und viel mit dem rigiden Sparkurs der Regierung zusammenhängen. Aber bedingt das eine nicht das andere? „Ich denke, daß die Intifada die israelische Gesellschaft brutalisiert hat“, meint Guidon Spiro. „Die Soldaten, die täglich ihre Brutalität zeigen müssen, die auf Kinder und Frauen schießen - das alles hat Rückwirkungen auf die israelische Gesellschaft. So ein Soldat wird morgen vielleicht ein Polizist sein. Und wenn er diese Normen der Westbank kennt, wird er viel schneller prügeln. Die Atmosphäre wird gewalttätiger.“

Zerbricht der

israelische Konsens?

Israel Gat ist Funktionär der Arbeiterpartei und zuständig für internationale Beziehungen. Er ist Realist. Natürlich, so Gat, würde bei Wahlen in den besetzten Gebieten die PLO gewinnen. Für Wahlen spricht er sich trotzdem aus, ebenso für Verhandlungen mit PLO-Angehörigen. „Wer eine Handgranate wirft, kommt ins Gefängnis. Mit ihm gibt es nichts zu verhandeln.“ Mit allen anderen Palästinenserführern seien Gespräche möglich. Vor zwei Jahren sprach er noch anders. Jetzt kann er sich eine palästinensische Autonomie vorstellen, nach weiteren fünf Jahren Übergangszeit einen palästinensisch-jordanischen Staat und den Abzug Israels aus den besetzten Gebieten. Allerdings, Verhandlungen mit der PLO-Führung lehnt auch Israel Gat weiterhin ab. Er will nur mit den lokalen Führern sprechen.

Gat ist in der derselben Partei wie Verteidigungsminister Rabin, der mit eiserner Faust die besetzten Gebiete befrieden will und in der Intifada kein Problem für Israel sieht. Die Arbeiterpartei in einer Regierung mit Minister Scharon, der Rabin nicht nur unterstützt, sondern noch härtere Maßnahmen gegen die Palästinenser verlangt.

„Natürlich hat die Intifada die israelische Politik verändert“, so ein Regierungsbeamter, der ungenannt bleiben möchte. „Wir wissen jetzt, daß der Status quo nicht beibehalten werden sollte.“ Der Status quo ist der bisherige israelische Konsens. Wie könnte ein neuer aussehen? Rechtsradikale Gruppen fordern die Annexion von Westbank und Gaza-Streifen. Ultrareligiöse wollen das „Land der Bibel“ nicht mehr hergeben, weil es ein unveräußerlicher Teil des historischen Israel sei. Meir Kahanes Kaach-Partei empfiehlt, wie einige andere Gruppierungen auch, die Massenvertreibung aller Palästinenser. Die Friedensbewegung verlangt Verhandlungen mit der PLO und den Abzug aus den besetzten Gebieten. Sie gesteht den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat an der Seite Israels zu. Der neue Konsens ist noch nicht gefunden, aber „es wird zu Gesprächen konnen“, davon ist der Regierungsmann überzeugt. Dieses Wunder soll der Baker-Plan der USA bewirken, an dessen Ende Verhandlungen zwischen Israel und Palästinensern aus Westbank und Gaza-Streifen stehen sollen. Israel hat dem Plan prinzipiell zugestimmt, die PLO hat ihre Bereitschaft signalisiert, Ägypten vermittelt. Der Regierungsbeamte ist optimistisch. Aber: „Arafat ist nicht Sadat.“ Man mache kein Geheimnis daraus, daß „wir einen Keil zwischen die PLO -Führung und die lokale Führung treiben wollen“. Da ist er wieder, der alte Konsens.

Mehr als zwei Jahre Intifada haben die eingefahrenen politischen Verhaltensweisen in Israel nicht verändern können. Aber die alten Weisheiten sind zweifelhaft geworden. Neue gibt es noch nicht. „Bei den Brotunruhen in Algerien im letzten Jahr haben sie 500 Menschen in einer Woche umgebracht“, erinnert Guidon Spiro. „Hier sind es 600 in zwei Jahren. Das sage ich, weil auch diese 600 zu viele sind. Aber das heißt, wir haben noch nicht die tiefste Stufe von Brutalität und Massakern erreicht. Ich sehe schwarz, wenn ich daran denke, was hier noch passieren kann.“

„Wir bleiben“

„Die meisten Reaktionen sind negativ“, gesteht eine der „Frauen in Schwarz“ auf der Demonstration in Jerusalem. „Die Leute werfen mit Schimpfwörtern um sich.“ Ein junger Mann mit einem Strauß roter Rosen geht die Reihe der Frauen entlang. Jede bekommt eine Blume geschenkt. „Beendet den Terror der PLO“ steht auf einem kleinen Plakat in der Gruppe der Gegner ein paar Schritte weiter. „Das ist nicht ihr Land, sondern unseres“, behauptet der Mann mit der Halbglatze im Brustton der Überzeugung. Er meint Westbank und Gaza-Streifen. Die Polizei ist anwesend, hält sich aber im Hintergrund. Die Demonstration der „Frauen in Schwarz“ ist gewaltfrei. Die Gegendemonstration ist eingespielt. Die Passanten hasten vorbei. Eine junge Frau in schwarzer Trauerkleidung versichert: „Wir werden so lange hier stehen bleiben, bis Verhandlungen beginnen.“