Heilige Allianz

Auch der Iran und die Türkei sind von der aserbaidschanischen Nationalbewegung betroffen  ■ K O M M E N T A R E

Die sowjetische Regierung hat durch den Truppeneinmarsch die ganze aserbaidschanische Bevölkerung in Wut versetzt. Der Volkszorn wendet sich nun auch gegen die Russen beziehungsweise gegen die Europäer überhaupt. Bald könnte es notwendig werden, auch sie zu evakuieren. Die Unabhängigkeit Aserbaidschans scheint unaufhaltsam zu sein.

Diese Entwicklung zeigt das Scheitern der bisherigen Taktik, zu den Armeniern und den Aseris gleiche Distanz zu halten und zu versuchen, als Vermittler aufzutreten. Diese Taktik hatte auf beiden Seiten den Verdacht genährt, die Zentrale bevorzuge jeweils die anderen. Denn beide Seiten hatten von Anfang an auf den totalen Sieg gesetzt und Emotionen mobilisiert, die Kompromisse ausschließen. Spätestens seit den Pogromen von Sumgait schließlich standen die liberalen Milieus in der europäischen Sowjetunion auf seiten der Armenier. Mit Sympathien konnten die Aseris nur unter den Moslems im In- und Ausland rechnen. Dennoch sollte das religiöse Moment nicht überschätzt werden. Der Islam ist zwar Teil des aserischen Nationalgefühls; Geschichte und Religion verweisen auf Persien. Dennoch ist die aserbaidschanische Bewegung in erster Linie nationalistisch. Damit aber sind zwei weitere Staaten gegen den Willen ihrer Regierungen involviert.

Der aserische Nationalismus, der sich unter den sprachlich und kulturell freieren sowjetischen Bedingungen in Baku neu herausbildete, strahlt auf die Intellektuellen des iranischen Süd-Aserbaidschans aus. Die Forderung nach Anerkennung einer eigenständigen aserischen Nation liegt auch dort in der Luft. Aber der Iran wird den Verlust einer seiner reichsten Regionen kaum hinnehmen wollen.

Schließlich gibt es im aserischen Nationalismus eine pan -türkische Unterströmung. Türken und Aseris, die sich sprachlich mühelos verständigen können, halten sich wechselseitig für Vettern. Nicht nur Armenier, auch Türken und Aseris sehen den kaukasischen Konflikt als Fortsetzung der türkisch-armenischen Feindschaft. Entsprechend orientieren sich die heutigen Sympathien in der türkischen Öffentlichkeit, die die Entwicklungen in Aserbaidschan engagiert verfolgt. Die Türkei hat zwar nur 50 Kilometer gemeinsame Grenze mit der aserbaidschanischen Exklave, nach Nachitschewan - aber schon jetzt ist ihre Regierung zu vorsichtigen Stellungnahmen gezwungen.

So zeichnet sich gegen die aserbaidschanischen Unabhängigkeitsbestrebungen eine Art heilige Allianz ab. Die drei betroffenen Regierungen wollen ihre relativ guten Beziehungen aufrechterhalten, und sie sind an stabilen Grenzen interessiert, schon um eine innere und äußere Destabilisierung zu verhindern.

Erhard Stölting