Jesse Jackson kann sich nicht entscheiden

■ Nach dem Kokainskandal um Washingtons Bürgermeister Marion Barry wird dort der Ruf nach Jesse Jackson als Nachfolger immer lauter / Der prominente schwarze Saubermann der Demokratischen Partei ist vorerst noch mit nationalen Aufgaben beschäftigt

Aus Washington Rolf Paasch

„Run Jesse run“, jener politische Anfeuerungsruf für den bekanntesten schwarzen Politiker Amerikas, den zweifachen demokratischen Präsidentschaftsbewerber Jesse Jackson, schallt lauter denn je durch die US-Hauptstadt. Nachdem sich Washingtons schwarzer Bürgermeister Marion Barry nach seiner vorübergehenden Festnahme wegen Kokainbesitzes nach Florida in eine Drogenklinik zurückgezogen hat, um dort im Kreise anonymer Alkoholiker und Koksschnüffler auf seine Anklage zu warten, fordern zahlreiche schwarze Politmanager die Bewerbung Jacksons um das Bürgermeisteramt. Ob nach einem eventuellen Rücktritt Barrys bei vorgezogenen Bürgermeisterwahlen oder beim im Herbst stattfindenen regulären Wahlgang: viele Anhänger der 1984 von Jackson gegründeten nationalen „rainbow coalition“ drängen auf Jesses Kandidatur. Doch der erst im letzten Sommer von Chicago nach Washington übergesiedelte Jackson scheint sich nicht entscheiden zu können, zu welcher Aufgabe er denn überhaupt hinrennen soll: wie schon 1984 und 88 zum demokratischen Präsidentschaftskarussell des Jahres 1992; zu einem Senatorenposten für Washington, D.C., wozu die im Kongreß noch stimmenlose US-Kapitale erst noch zum 51.US -Bundesstaat gemacht werden müsste; oder zum Bürgermeisteramt der Dreiviertel-Millionen-Metropole zwischen Potomac und Chesapeake Bay, das er im Falle einer Kandidatur fast sicher hätte.

Der Skandal um den Noch-Amtsinhaber Barry, den FBI-Agenten am Donnerstag in einer James-Bond-reifen Operation mit einem weiblichem Lockvogel zum Kokaingenuß in einem videoüberwachten Hotelzimmer bewegt hatten, hinterließ bei dem sonst so redegewandten Jackson jedenfalls einen ungewohnten Effekt: er verschlug ihm die Sprache. Wegen einer „Grippe“ sagte er alle Interviews ab. Jesse erbat sich Bedenkzeit.

Doch der Entscheidungsdruck auf den politischen Hoffnungstraeger vieler Schwarzer wächst täglich. Jesse müsse sich irgendwann in seinem ereignisreichen Politikerleben auch mal in einem gewählten Amt bewähren, so lautet das immer wieder vorgebrachte Argument, ehe er sich 1996 dann mit ernsthaften Chancen um das US-Präsidentenamt bewerben könne. Andere halten diese Logik schlicht für einen Trick rechter Demokraten, den lästig linken und schwarzen Demokraten Jackson von einer erneuten Präsidentschaftskandidatur für 1992 fernzuhalten. Jackson selbst schien noch bis in die letzte Woche vor Barrys Sündenfall ganz andere Pläne zu haben. Hatte er doch gerade seine Rolle bei der zukünftigen Kampagne seiner „rainbow coalition“ skizziiert, deren Ziel die Verwandlung der Bundeshauptstadt Washington, D.C. in einen Bundesstaat mit politischer Repräsentation in Senat und Repräsentatenhaus ist. Bis heute nämlich ist der „District of Columbia“, jener 1800 als Kompromiß zwischen Nord- und Südstaaten geographisch abgezwackte Hauptstadtwürfel, nur mit nicht stimmberechtigten Beobachtern im Repräsentantenhaus vertreten. Während die in den Vorstädten residierende weiße Mittelklasse so ihre Repräsentanten in Virginia oder Maryland wählen kann, gelten für die im zu großen Teilen verslumten District of Columbia hausenden Schwarzen in der Tat noch quasi-koloniale Verhältnisse: „taxation without representation“. Sie dürfen das von ihnen nicht mitgewählte Parlament mit ihren Steuern mitfinanzieren. Und zwei weitere progressive Senatoren, so Jackson über den möglichen landesweiten Effekt seiner Bundesstaatskampagne in der demokratischen Hochburg Washington, „würden unsere Optionen in den gesetzgebenden Kammern ganz nett verändern“.

Angesichts solch hehrer politischer Aufgaben für die nichtrepäsentierten „Washingtonians“ und den linken Demokratenflügel schien es seinen engsten politischen Beratern bisher töricht, die nationale Figur ihres Jesse Jackson ins Bürgermeisteramt - und damit ins lokalpolitische Abseits abzuschieben. Seine nationalen Rekrutierungskampagnen für schwarze Wähler, seine Solidaritätsauftritte bei Arbeitskämpfen und nicht zuletzt seine für den Herbst geplante Fernseh-Talkshow lassen in der Tat die Frage aufkommen, wo denn Amerikas einziges Sprachrohr eines kritischen schwarzen Bewußtseins, das einzig positive und linke Rollenmodell der Afroamerikaner, demnächst besser einzusetzen ist: als schwarzer Bürgerrechtskämpfer und Aktivist ohne Amt, aber mit zahlreichen nationalen Aufgaben; oder als Saubermann und positive Idenfikationsfigur für die schwarze Bevölkerung der Crack-Hauptstadt und Mörder-Metropole Washington.

Wenn der Skandal um Bürgermeister Marion Barry und der Ruf nach Jesse Jackson bisher eines gezeigt haben, dann dieses: wie arm die US-Demokratie an Politikerfiguren ist, die weder korrupt, drogenabhängig noch kriminell sind und deren rassen - und klassenübergreifende Integrationskraft noch nicht von der Mainstream-Meinungsmache der die Medien beherrschenden weißen Mittelklasse aufgelöst worden ist.