Ein Europa um die Militärachse Berlin-Paris?

Wiedervereinigung in der Nato fordern einige Unionspolitiker / Jedenfalls Einbindung in die westeuropäische Militärstruktur / Für ein neues starkes Deutschland könnte sich die Frage der atomaren Mitverfügung stellen  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Deutschland wiedervereinigt in der Nato? Für Alfred Dregger, den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, ist das „durchaus möglich und erreichbar“. Und auch Uwe Ronneburger, deutschlandpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, sieht darin eine „sinnvolle Lösung“ - eine Mitgliedschaft im Warschauer Pakt komme schließlich „als Alternative nicht in Betracht“. Was westliche Strategen früher nur in ihren kühnsten Träumen erwogen haben, nämlich die DDR einfach der Nato einzuverleiben, ist seit Öffnung der Berliner Mauer eine gängige Position im konservativ-liberalen Lager geworden. Um dieser Ausdehnung der Militärallianz gen Osten den imperialistischen Anstrich zu nehmen, wird zugleich ihre zunehmende „politische Bedeutung“ als „Gesprächspartner zwischen Ost und West“ beschworen.

Weil sich die Paktfrage aber vielleicht doch etwas komplizierter stellt, hält unter konservativen Sicherheitspolitikern die Debatte über verschiedene Stufenmodelle an. Ein neues Deutschland als Nato-Mitglied, aber das Gebiet der heutigen DDR frei von Nato-Truppen, so lautet die Vorstellung von Willy Wimmer, Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Sein Chef Gerhard Stoltenberg geht noch etwas weiter: Für die heutigen Warschauer-Pakt-Staaten, also auch die DDR, müßten „besondere Sicherheitsregelungen“ erörtert werden. Mit einer eher singulären Position meldete sich der Verteidigungsexperte der Unionsfraktion, Bernd Wilz, zu Wort: Er favorisiert eine „Europäische Sicherheitsunion“ unter Einschluß neutraler Staaten, bei der USA und Sowjetunion nur die Rolle von „Garantiemächten“ hätten. Dies käme den Vorstellungen der Sozialdemokraten nahe. Sie halten ein vereintes Deutschland nur für möglich, wenn die Militärblöcke durch ein europäisches Sicherheitssystem abgelöst worden sind.

Außenminister Genscher wiederum hält sich, wie so oft, nach allen Seiten offen: zum Beispiel mit der Floskel, die bisherigen Bündnisse seien Bausteine für „gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen“. Kanzler Kohl meidet ebenfalls eine öffentliche Festlegung. Weil er - anders als die SPD bereits im Falle einer deutsch-deutschen Konföderation die Paktfrage gestellt sieht, lehnt er dieses Übergangsmodell zur Wiedervereinigung ab.

In der Summe wirken all diese Vorschläge verwirrend dennoch zeichnen sich dahinter die Konturen der künftigen Rolle Deutschlands in Europa ab. Sämtliche Militärstrategen gehen davon, aus daß sich die Sowjetunion militärisch hinter ihre eigenen Grenzen zurückziehen muß und wird, wie jetzt bereits der Truppenabzug aus Ungarn zeigt. Die USA sollen hingegen militärischen Einfluß in Westeuropa behalten, doch werden auch sie sich in einem Ausmaß zurückziehen, das „vor allem eine politisch-psychologisch neue Lage schafft“, so die Beschreibung von Karl Lamers, dem abrüstungspolitischen Sprecher der Unionsfraktion. D.h., eine militärische Eigenständigkeit der westeuropäischen Staaten steht heute mehr denn je auf der Tagesordnung.

Für das wiedervereinigte Deutschland gibt es zur Einbindung in diese westeuropäischen Militärstrukturen „keine Alternative“, sagt Karl Lamers. Ob dieser Verbund dann noch als europäischer Pfeiler der Nato firmiert oder als Ausbau der bestehenden „Westeuropäischen Verteidigungsunion“ (WEU) ist relativ zweitrangig. Entscheidender ist, daß die vielbeschworene europäische Friedensordnung nach diesem Konzept nur eine östliche Ausdehnung des militärgewaltigen Westeuropas ist. Belegen läßt sich dies durch die fortdauernde Bedeutung, die der deutsch-französischen Militärkooperation beigemessen wird. Diese Zusammenarbeit, so formuliert der FDP-Verteidigungsexperte Olaf Feldmann ganz unverblümt, sei nicht nur das „Herzstück“ der westeuropäischen Integration, sondern „auch das Fundament einer gesamteuropäischen Friedensordnung“. Die Achse Bonn -Paris würde also zur Achse Berlin-Paris.

Keineswegs zweitrangig ist dabei der Status Frankreichs als Atommacht. Denn die bisherige Forderung der Union, die französischen und auch die britischen Atomwaffen müßten unter gemeinsame westeuropäische, also auch deutsche, Mitsprache gestellt werden, ist durch die Perspektive der Wiedervereinigung nicht vom Tisch. Im Gegenteil: Für ein geeintes Deutschland, für diese politisch, ökonomisch und militärisch starke Zentralmacht in Europa, könnte die Frage der Mitverfügung über Atomwaffen erst recht aufgeworfen werden. Der CDU-Politiker Karl Lamers hat dies in einer Bundestagsdebatte in gebotener Vorsicht angedeutet: Die Bundesdeutschen müßten ihre Haltung „zu der Zukunft des Nuklearen deutlicher machen als bislang“. Hinter den Kulissen dürfte also Brisanteres diskutiert werden als die nur vordergründig spektakuläre Frage der Nato-Mitgliedschaft des neuen Deutschlands.

Die Vision eines derart gerüsteten Deutschlands mag wenig passen zu jenem fortgesetzten Abrüstungsgerede, das derzeit die öffentliche Diskussion prägt. Allerdings fügen sich partielle Abrüstungsvorschläge durchaus in das Konzept der Ausweitung der westlichen Militärhegemonie gen Osten. Durch derartige Vorschläge soll nämlich zum Beispiel, wie der CDU -Generalsekretär Volker Rühe formuliert, „die geostrategische Bedeutung der DDR für die Sowjetunion vermindert“ werden.