Liebe ohne Sex

■ Platonische Frauenphantasien in der Romantik / Helga Gallas auf der Literarischen Woche

Wie Frauen sich im 18.Jh. das Liebesleid von der Seele schrieben, war Thema des zweiten Versuchs der Literarischen Woche, aktuelle germanistische Diskussionen einem nicht-akademischen Publikum nahezubringen. Die Bremer Professorin Helga Gallas spürte in den „empindsamen“ Romanen eine weibliche Lust an der Entsagung auf, die unserer heutigen Liebesideologie absurd entgegengesetzt scheint.

Obwohl seit der Romantik eine Synthese von Liebe, Sexualität und Ehe propagiert wird, wollen die Romanautorinnen der Epoche nichts von dieser Dreieinigkeit wissen. Sie idealisieren vielmehr eine Liebe, die sich von den Abgründen der Wollust fernhält. Paradox? In einer Zeit, als es den Frauen möglich wird, den zu heiraten, den sie wollen, verzichten sie literarisch auf den Geliebten. Die Ehe mit dem Ungeliebten wird heroisiert, als die freie Partnerwahl gesellschaftlich akzeptiert, Standesrücksichten und Elternwünsche nicht mehr unüberwindbar sind.

Dies zu illustrieren, stellte Helga Gallas einige der vielen Autorinnen vor, die keinen Eingang in die Literaturgeschichte gefunden haben. So schwelgen z.B. in Caroline von Wobesers Roman „Elisa oder das Weib, wie es seyn sollte“ die Heldin und ihr Angebeteter in dem süßen Bewußtsein der Enthaltsamkeit, nachdem die Ehe aus scheinbar absurden Motiven mit dem widerlichen von Wallenheim vollzogen worden ist: „Selbst in deinen Armen würde ich die Wonne nicht empfinden, die jetzt das seelige Gefühl der Tugend mir gibt.“

Junggesellenschicksal und Ehepleite stehen dem Happy-End nicht im Wege, weil die Entsagenden sich ihrer Liebe gewiß sind. Verzicht und Begehren gehören untrennbar zusammen, „da man“, so Jaques Lacan, „nicht begehren kann, was man hat“.

Von solcher - wohlgemerkt freiwilligen - Verzichtsleistung erzählt auch Helene Unger in ihrem Roman „Gräfin Pauline“. Der Fürstensohn Aemil muß die nichtswürdige Florentine zur Gattin nehmen. Die Beziehung zur insgeheim geliebten Pauline bleibt eine platonische auch dann noch, als die Ehefrau stirbt und dem gemeinsamen Glück eigentlich nichts mehr hinderlich sein sollte. Unglaublich, aber wahr: Pauline sucht selbstlos einen neuen Gatten für Aemil, um dann in Einsamkeit dahinzusiechen. Aber die Entsagung lohnt sich. Ihre Todesstunde führt sie in die Arme des Geliebten zurück. Im Verzicht liegt der Genuß. Die moralische Vollkommenheit adelt die Frau und entschädigt für das nicht gelebte Leben. Außerdem ist ewige, wahre Liebe garantiert. Es gibt den Märchenprinzen - wenn auch nur als Abwesenden.

Am Ende des Vortrages blickte die Referentin auf die Geschichte der europäischen Liebeskultur zurück. Auffallend sei, daß gerade Bewegungen, die die sexuelle Enthaltsamkeit propagierten, von Frauen getragen wurden. Die keusche, reine Frau existiert also offenbar nicht nur in männlicher Ideologie und Ästhetik.

Wie Gert Sautermeister hegt Helga Gallas den Verdacht, daß die Frage der „Literarischen Woche“, ob es ein spezifisch weib

liches Schreiben gebe, mit Nein beantwortet werden muß. Wenn sich nämlich Autorinnen und Autoren gleicher Gedankenmuster bedienen, ist zu fragen, ob die mühsame Unterscheidung zwischen weiblichem und männlichem Schreiben lohnt. Wäre es

nicht ergiebiger, Literatur unter dem Gesichtspunkt zu klassifizieren, welche spezielle Beziehungsform sich in ihr niederschlägt - „und zwar unabhängig vom Geschlecht des Schreibenden?“ Kerstin Thust/Christian Bommer