Der schöne s strahlende Schein

■ Damit die Tomate, im August geerntet, auch noch im Dezember schön frisch und knackig aussieht, darf sie in Zukunft radioaktiv bestrahlt werden. Schließlich will die Bundesrepublik den meisten anderen EG-Ländern in Sachen Lebensmittelkonservierung nicht nachstehen.

Was das nicht nur für besagte Tomate, sondern auch für den Menschen bedeutet, berichtet

MICHAEL BULLARD.

lykol im Wein, Salmonellen im Hähnchen, Würmer im Fisch, tödliche Bakterien im Käse - Lebensmittel wurden in den letzten Jahren häufig zu Sterbemitteln. Das soll jetzt anders werden. Damit die EG-BürgerInnen ihren Nahrungsmitteln wieder richtig vertrauen können, haben die Eurokraten eine Richtlinie entworfen, die die Bestrahlung von elf Lebensmittelgruppen - Obst und Gemüse, aber auch Geflügel und Gewürze - mit „ionisierenden Strahlen“ in allen EG-Staaten erlaubt.

Bislang wird dieses Verfahren zur Haltbarmachung von Lebensmitteln nur in einigen Ländern wie Frankreich, Belgien und Holland, aber auch in der DDR angewandt. In Großbritannien und der Bundesrepublik ist die radioaktive Bestrahlung von Lebensmitteln und deren Einfuhr dagegen verboten. Da diese unterschiedliche Handhabung dem Ziel der EG-Kommission, Ende 1992 einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen, im Wege steht, soll in Zukunft einheitlich bestrahlt werden können. Doch bevor es soweit ist, muß die EG-Kommission noch einige Hürden nehmen. Das Europaparlament hat dem Kommissionsentwurf im letzten November ein vernichtendes Urteil ausgestellt. Im Bericht des Umweltausschusses heißt es: „Es sind erhebliche Nährwertverluste durch die Anwendung der Bestrahlung hinzunehmen. 70 Prozent der Vitamine und essentielle Aminosäuren werden zerstört, Proteine denaturiert. Zum Teil ergeben sich aus der Bestrahlung auch schwerwiegende toxikologische Veränderungen in den Lebensmitteln. Bei indischen Kindern, die länger mit bestrahltem Weizen ernährt wurden, konnten Schädigungen der Erbmasse festgestellt werden.“

Die schroffe Ablehnung der Richtlinie gab der Kommission zu denken. Statt allerdings die vom Parlament verabschiedeten Zusätze in den Richtlinienvorschlag mitaufzunehmen, wie es die normale, in den EG-Statuten vorgeschriebene Prozedur vorsieht, will Binnenmarktkommissar Martin Bangemann dem Parlament ein Schnippchen schlagen. Vor zwei Wochen gab er in Straßburg bekannt, daß die Kommission beabsichtigt, die Bestrahlung von Lebensmitteln nun Ende des Jahres über die „Globalrichtlinien für die Behandlung und Zusatzstoffe von Lebensmitteln“ durchzusetzen.

war hatten Wissenschaftler schon in den 50er Jahren ausgeschlossen, daß Lebensmittel durch die Bestrahlung radioaktiv werden könnten. Damals war aber noch ungeklärt, ob dieses Verfahren nicht stoffliche Veränderung bei den Lebensmitteln verursacht, die gesundheitsschädigend wirken. Das 1959 erlassene Bundeslebensmittelgesetz verbot deshalb die Bestrahlung. Stattdessen benutzte man vor allem bei der Konservierung von Gewürzen das Gas Ethylenoxid. Es geriet allerdings in den letzten Jahren in den Verdacht krebserregend zu sein und darf seit 1986 in der EG nicht mehr benutzt werden.

1980 kam ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Welternährungsorganisation (FAO) und der Internationalen Atombehörde (IAEA) ins Leben gerufenes Komitee nach neunjähriger Forschungsarbeit schließlich zu dem Ergebnis, daß die „durchgeführten Experimente und Tierversuche keinen Hinweis auf ein gesundheitliches Risiko beim Verzehr bestrahlter Lebensmittel“ ergeben hätten. Eine von der britischen Regierung beauftragte Expertengruppe zog 1986 nach: „Ionisierende Bestrahlung bis zu einer Gesamtdosis von 10kGys stellt eine wirksame Methode zur Lebensmittelkonservierung dar, die nicht zu einer signifikanten Änderung der natürlichen Radioaktivität der Lebensmittel führt oder die Sicherheit und Verträglichkeit desselben beeinflußt.“

kGy ist die Einheit für die pro Kilogramm durchstrahlter Materie aufgenommene Strahlendosis. Früher wurde die Bezeichnung rad benutzt. Lebensmittel werden mit bis zu einer Million rad bestrahlt, während die Strahlendosis bei einer Röntgenaufnahme etwa 0,01 rad beträgt.

Die Technik wird heute in 20 Ländern hauptsächlich der Dritten Welt genutzt. Größere Mengen Lebensmittel werden allerdings bislang nur in wenigen Ländern bestrahlt. Spitzenreiter ist die Sowjetunion, wo jährlich bis zu 400.000 Tonnen Getreide per Fließband durch einen Strahlenvorhang geschleust werden. In den Niederlanden bestrahlt man jährlich etwa 15.000 Tonnen Lebensmittel, in Belgien rund 8.000 Tonnen.

Benutzt werden Röntgen- und Elektrostrahlen, die elektrisch erzeugt und abgeschaltet werden können, sowie Gammastrahlen, die von den radioaktiven Isotopen Kobalt-60 oder Cäsium-137 ausgesandt werden. Die meisten Bestrahlungsanlagen arbeiten derzeit mit Kobalt-60, doch die Bedeutung von Cäsium-137 nimmt zu. Da Cäsium-137 wie Plutonium in abgebrannten Kernbrennstäben aus Atomreaktoren enthalten ist, verdächtigen Gegner der Lebensmittelbestrahlung die Atomlobby, mit Hilfe der radioaktiven Konservierung ihr eigenes Problem der Endlagerung hochradioaktiven Mülls mildern zu wollen.

Röntgen-, Elektronen- und Gammastrahlen sind ionisierende Strahlen, die die Atome der bestrahlten Materie in Ionen umwandeln können. In lebenden Zellen hat diese Ionisierung tödliche Wirkung: Bakterien, Schimmelpilze, Trichinen, aber auch Insekten sterben ab. Bei den Untersuchungen wird immer von einer Dosis bis zu 10 k Gy ausgegangen. Mit einer höheren Strahlendosis können Lebensmittel sterilisiert, das heißt, alle Mikroorganismen abgetötet werden. Mit einer Bestrahlung unter 1 k Gy wird das Austreiben von Zwiebeln und Kartoffeln verhindert und die Reifung von Erdbeeren und Papayas gestoppt. Mit 10 k Gys wird der Befall von Lebensmitteln durch Pilze oder Bakterien verhindert, wodurch sich die Lagerfähigkeit der Produkte verlängert.

Der Nahrungsmittelindustrie kommt deshalb die EG-Richtlinie sehr entgegen, da mit der Bestrahlung Verluste durch lange Lagerzeiten verringert und gleichzeitig das frische Äußere der Waren künstlich erhalten werden.

Doch viele dieser Vorteile entpuppen sich bei genauerem Hinschmecken als Nachteile. In einer Broschüre der Verbraucherinitiative heißt es: „Die Bestrahlung führt zu vielfältigen chemischen Veränderungen, die den Nährwert der Lebensmittel beeinflussen. Frisch aussehendes, aber bestrahltes Gemüse oder Obst entspricht in seiner Qualität eher gekochten Produkten. Die Bestrahlung verlängert vor allem die Lebensdauer der Lebensmittel in den Regalen. Nach dem Motto 'Mehr Schein als Sein‘ täuschen diese Waren einen Gesundheitswert vor, den sie nicht besitzen. Hinzu kommt, daß die Frage, ob durch radioaktive Bestrahlung auch krebsauslösende Substanzen gebildet werden, noch völlig ungeklärt ist.“

us Konsumentensicht wird auch kritisiert, daß die EG -Richtlinie keine klare Regelung für die Kennzeichnung bestrahlter Lebensmittel vorsieht. Die französische Industrie lehnt die Verwendung der Aufschrift „radioaktiv bestrahlt“ ab und schlägt statt dessen vor, den Zusatz „ionisiert“ zu verwenden. Die FAO-, WHO-, IAEA-Experten bevorzugen hingegen die Bezeichnung „insektenfrei“.

Die Bestrahlungsgegner im Europaparlament argumentieren außerdem, daß die Konsumenten getäuscht werden können, solange es keine ausreichenden Nachweisverfahren für die Bestrahlung gibt. Mit den neuentwickelten Verfahren könne zwar die Bestrahlung von Gewürzen und Trockengemüse erkannt werden. Bei allen wasserhaltigen Lebensmitteln gebe es jedoch keine Kontrollmöglichkeit. Darüber hinaus, so kritisiert die Berichterstatterin des Umweltausschusses im Europaparlament Eva Quistorp, sieht die EG-Richtlinie keine Nachweispflicht für die Höhe der Bestrahlungsdosis vor.

ollte Bangemann sein Trick gelingen, mit dem er die Einsprüche des Parlaments übergehen möchte, muß er sich mit der zukünftigen Bundesregierung auseinandersetzen. Selbst wenn diese sich ernsthaft gegen die Richtlinie zur Wehr setzen wollte - viele Chancen, den Import bestrahlter Lebensmittel zu verhindern, hat sie nicht: Schließlich brechen EG-Richtlinien nationales Recht. Gerade bei der Europäisierung der Lebensmittelrechte hat der Europäische Gerichtshof mit dem sogenannten „Cassis de Dijon„-Urteil gezeigt, wohin seiner Meinung nach die Reise geht: „Eine in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in Verkehr gebrachte Ware muß in allen anderen Mitgliedstaaten zur Einfuhr und zum freien Verkehr zugelassen werden, unabhängig davon, ob sie den Vorschriften für inländische Waren entspricht oder nicht.“