Der unentbehrliche „Nestbeschmutzer“

■ Erich Kubys „Mein ärgerliches Vaterland“

Nun, da sie den lästigen Tucholsky mit seinen fünf Pseudonymen einmal mehr unter Lobpreisungen zu Grabe getragen haben, kann es ja gesagt werden. Sie sind ihn immer noch nicht los, denn er lebt unter einem sechsten PS namens Erich Kuby weiter, der - Gott sei's gedankt - die Rolle des Störenfrieds der Deutschen seit 45 Jahren mit ungebrochener Angriffslust spielt. Fast 80 Jahre jung, hat er zur Jahrzehntwende eine Auswahl aus Hunderten von Reportagen, Feuilletons, Analysen, Vorträgen, Reden publiziert, versehen mit kurzen Kommentaren zur Zeit, in der sie jeweils entstanden, und dann noch zusammengefaßt in einem Ausblick, der so illusionslos ist, daß er den Leser in eine wohl unbeabsichtigte, aber fast unvermeidliche Depression stürzt.

Soll denn das alles, was da an Warnungen und ebenso fundierter wie brillant formulierter Kritik ans Offene gebracht wurde, wirklungslos verhallt sein? Sind sie wirklich so unbelehrbar, so dumm, diese Deutschen, wie es Kassandra Kuby immer wieder, in immer neuen, immer böseren Redewendungen behauptet? Wer den Konsumrausch und die nationale Begeisterungswelle der befreiten DDR-Zwangsbürger miterlebt, fühlt sich allerdings an die ersten Nachkriegsjahre erinnert, in denen die endlich greifbar nahe Chance eines wirklich sozialen und gerechten Deutschlands auf beiden Seiten verspielt wurde.

Hinter diesem „ärgerlichen Vaterland“, das EK schildert, geißelt, reizt, enthüllt, muß sich für ihn wohl ein anderes, erhofftes, gewünschtes finden, von dem er träumt. Sonst würde er sich nicht so leidenschaftlich engagieren, könnte er den Schmerz und die Wut, die ihm der „Ist„-Zustand seines - er will's und kann's nicht leugnen - Vaterlands verursachte, vermutlich nicht ertragen. Aber darüber spricht er nicht. Er vermag, so gesteht er, „nicht mich selbst, mein Inneres der Sprache auszuliefern“. Weshalb eigentlich nicht? Vielleicht weil eben auch er ein Deutscher ist, der wie Siegfried durch eine fast undurchdringliche Hornhaut geschützt bleiben will. Ein Drachentöter - wahrhaftig, an dem die Empörung der von ihm in ihrem verlogenen Selbstverständnis tödlich Verletzten abprallt.

1959 hat Kuby in einer seither ins Denken dieser Epoche eingegangenen Glosse Zeitkritiker wie Burckhardt, Heine, Nietzsche, Luxemburg, Ossietzky, Tucholsky und Karl Krauss von den politischen Tätern unterschieden und als „Merker“ bezeichnet. Gäbe es sie nicht, „ja, was fehlte dann?“ fragt er und antwortet: „Das Gewissen, der Geist schlechthin, der politische Geist zumal.“ Damit könnte ja der exemplarisch scharfsinnige und scharfschreibende Merker Kuby zufrieden sein, aber er ist es nicht.

„Überlegungen, wie es um das eigene Tun, das Schreiben und Reden eigentlich bestellt sei, ob irgendeine Wirkung davon ausginge, haben mich bis zum heutigen Tage beschäftigt“, heißt es in einem seiner Kommentare, den er kurz vor Erscheinen des Buches, also wohl im Frühjahr 1989, niedergeschrieben hat. Im gleichen Jahr versucht er auf einem Turiner Kongreß, in dem internationale Geistesgrößen einmal mehr über das Verhältnis von Intellektuellen und Macht diskutieren, seine Zuhörer zu desillusionieren: „Niemand sollte sich mehr dem Wahn hingeben, mit der Waffe Vernunft, allenfalls ergänzt durch Moral und Humanität, könnten die Inhaber politischer und/oder wirtschaftlicher Macht dazu veranlaßt werden, Forderungen anzuerkennen und praktisch wirksam werden zu lassen, von denen ihr Ansehen negativ tangiert oder der Profit gemindert würde.“

Also was bleibt zu tun? In Form von Informationen, Analysen, Prognosen „Munition liefern“ an jene „Gruppen und Parteien, die gegen die globale Gefährdung menschlicher Existenz vorgehen, indem sie die quantitative Absicherung der Macht, politisch durch die Wähler, wirtschaftlich durch die Kunden zu beschädigen trachten“, konzediert er schließlich.

Sollte das bei allen Völkern möglich sein, nur bei den Deutschen nicht? Ich kann das nicht glauben, wenn ich erlebe, wie gerade in der Bundesrepublik und nun auch immer offener in der DDR sich besonders viele kritische Bürger gegen die Mehrheit der noch konsumgierigen, obrigkeitstreuen, passiven und resignierten Untertanen wehren. Die gab es nicht, als der arme Tucholsky aus Verzweiflung über seine Wirkungslosigkeit Selbstmord begehen mußte. Und es gab auch keine taz, in der ein unbeirrbar kritischer „Bohrer“ (nicht zu verwechseln mit dem 'FAZ' -Bohrer) namens Kuby das schreiben kann, was 'Spiegel‘, 'Stern‘ und 'Süddeutsche‘ sogar heutzutage noch für zu gewagt halten.

Robert Jungk

Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Carl Hanser Verlag, München 1989. 538 Seiten, ca. 48DM.