Trocken Brot statt Wohlstandskuchen

■ In der BRD wächst die Armut - besonders unter Frauen. 3,1 Millionen BürgerInnen leben bereits von Sozialhilfe. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband legte nun seinen ersten „Armutsbericht“ vor. Doch die Ursachen der weiblichen Armut bleiben darin unterbelichtet

Christine Weber-Herfort

Der Zeitpunkt war ungünstig: Während in der DDR die Revolution gefeiert wurde, während die Politiker und Journalisten in der BRD täglich das Schaufenster der Freiheit neu dekorierten, placierte der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) im November letzten Jahres seinen ersten Armutsbericht für die Bundesrepublik in der Auslage.

Titel: “...wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land...“.1 Da liegt er nun - und es schämt sich wieder mal kein Schwein! Wo doch die Mehrheit hierzulande den eigenen Wohlstand erst so richtig genießt, seit sie ihn den armen NachbarInnen vorführen kann! Aber auch die von drüben sind an unserer Armut nicht interessiert. „Nein!“, entschied die Journalistin in Ost-Berlin sofort: „Armut in der BRD ist bei uns zur Zeit kein Thema. Das hatten wir jahrelang zwangsweise, um von der eigenen Misere abzulenken.“

Die Armut ist weiblich reklamiert die Frauenbewegung und verweist auf Fakten:

-50 Prozent der Arbeitslosen sind Frauen, obwohl sie nur ein Drittel der Erwerbstätigen stellen;

-66 Prozent aller Jugendlichen ohne Ausbildungsvertrag sind Mädchen;

-80 Prozent aller über 65jährigen Sozialhilfeempfänger sind Frauen;

-87 Prozent aller Rentnerinnen haben weniger als 1.200 DM Rente (Männer 30 Prozent);

-93 Prozent aller unterhalb der Sozialversicherungspflicht -Grenze Beschäftigten sind weiblichen Geschlechts.

Aber diese Zahlen sagen nichts über Ursachen, Verlauf und Folgen weiblicher Armut. Vergeblich fordert der DPWV seit Jahren eine kontinuierliche Armutsberichterstattung von der Bundesregierung. Diese erst, so argumentiert der Wohlfahrtsverband, mache es möglich, die Vielschichtigkeit und den Verlauf von Verarmungsprozessen frühzeitig zu erkennen und stärker ins öffentliche Bewußtsein zu bringen. Da aber ein solcher Armutsbericht auch ein Armutszeugnis für die Politik wäre, wurde er bis heute nicht erstellt.

Auch die anderen Wohlfahrtsverbände haben offensichtlich kein Interesse an einer Thematisierung der Armut. Vielleicht leben sie zu gut davon. Das vom DPWV initiierte Projekt eines von allen Wohlfahrtsverbänden gemeinsam erstellten Armutsberichtes scheiterte jedenfalls, und so verantwortet der DPWV seine Arbeit alleine. Wichtige Bereiche fehlen

„Der vorliegende Bericht versteht sich dabei nicht als eine umfassende Armutsberichterstattung. Dies kann ein Wohlfahrtsverband nicht leisten und stellt im übrigen eine öffentliche Aufgabe dar. Es sollen vielmehr die im Verband vorliegende Erfahrungen mit allgemein zugänglichen Statistiken verknüpft werden, um so Schritt für Schritt ein, wenn auch unvollständiges, so doch erstes Mosaik zum Erscheinungsbild der Armut zu entwerfen...“, heißt es in der Einleitung. So ist es denn auch schwer zu kritisieren, daß so wichtige Bereiche des Mosaiks wie „Niedrigverdiener“, „Teilzeitbeschäftigung“ und „ungeschützte Arbeitsverhältnisse“ - alles Spezialgebiete weiblicher Armut - leer bleiben. Neben einem Referat über die Frage „Was ist überhaupt Armut?“ und einer sehr informativen Darstellung der „Volkswirtschaftlichen Kosten der Armut und Arbeitslosigkeit“ werden folgende Bereiche - auch in ihren Verknüpfungen - gezeigt: Sozialhilfe, Arbeitslosigkeit, Armut und Überschuldung, Einkommen in den Behindertenwerkstätten, Altersarmut, Armut unter Ausländern, Flüchtlingen, psychisch Kranken - alle diese zehn Themen werden von Fächmännern beleuchtet. Am Schluß findet sich noch die Fachfrauenabteilung mit den „Spezialgebieten“: Armut und Kinderreichtum, Armut der Alleinerziehenden und ein Exkurs „Armut und Frauen“.

Positiv bei allen Themen: Es werden keine Erfahrungsberichte aneinandergereiht. Es werden durch Untersuchungen und Forschungsberichte abgesicherte Erkenntnisse dargestellt und mit zum Teil sehr aussagekräftigem statistischem Material verknüpft. Ein Mangel dabei ist, daß es nicht noch einmal übersichtlich zusammengestellt wird. Teure Sozialhilfe

Deutlich wird auch, daß Armut kein Randproblem mehr ist. Allein im viel gepriesenen „letzten Netz des Sozialstaates“ haben sich inzwischen 3,1 Millionen Bürger - 5,2 Prozent der gesamten Bevölkerung (56 Prozent davon Frauen) - verfangen. Die Dunkelziffer ist beträchtlich. „Nach einer Untersuchung von Hartmann aus dem Jahre 1981 - neuere Veröffentlichungen liegen nicht vor - nahmen von 100 Sozialhilfeberechtigten 48 ihren Anspruch nicht wahr. Wenn alle sie einforderten, bliebe vom „letzten Netz“ nur noch ein großes Loch. Schon jetzt stöhnen die Kommunen unter der Last. 28 Milliarden Mark zahlten sie 1987 für die Sozialhilfe.

Aber das „letzte Netz“ hat auch für die Betroffenen einen hohen Preis. „Es gibt keine Hilfe, die die Empfänger mehr kostet als die Sozialhilfe“, so der Bericht:

-Sozialhilfe kostet den höchsten Beratungsaufwand

Beispiele: Wohngeld, Kindergeld, Unterhaltsgeld. Alles muß durchgesetzt und beantragt werden, obwohl alle diese Leistungen wieder von der Sozialhilfe abgezogen werden.

-Sozialhilfe kostet viel Zeit

Prinzip ist: SozialhilfeempfängerInnen haben gefälligst selbst beim Amt zu erscheinen. Sie warten oft und lange. Damit wird ihnen ihr Status ganz am Ende der Hierarchie immer neu deutlich gemacht, denn: je höher der Status eines Menschen, desto weniger darf man ihn warten lassen.

-Sozialhilfe kostet Geld

insbesondere Ausgaben im Verkehr mit den Behörden (Porti, Telefon, Kopien, Fahrten).

-Sozialhilfe bedeutet Kontrollverlust in eigenen Angelegenheiten.

-Sozialhilfe kostet die Selbstsicherheit und Selbstständigkeit und die persönliche Würde. Insbesondere durch die Struktur der Sozialbürokratie, durch individuelle Übergriffe von SachbearbeiterInnen, durch mangelnden Schutz des Sozialgeheimnisses und durch persönliche Abhängigkeit.

-SozialhilfeempfängerInnen zahlen mehr als andere:

Wer arm ist, kann nicht wählen, kann keine günstigen Vorräte anlegen, hat keine Transportmöglichkeiten etc.

Allerdings: Die Kosten für Männer und Frauen sind verschieden hoch.

Nach einer Untersuchung von Wolfgang Scherer2 - die im Armutsbericht nicht erwähnt wird - „sind es in der Regel die (Ehe)frauen, die sich der oft erniedrigenden Situationen und Auseinandersetzungen auf dem Sozialamt aussetzen müssen. Männer sind zumeist nur beim Erstantrag anwesend; alltäglich sind neben den alleinstehenden Männern nur Frauen auf den Ämtern anzutreffen.“ Ungleich - auch in der Armut

Weibliche Armut rangiert in den qualitativ unterschiedlichen Beiträgen bestenfalls gleichwertig neben der Armut von Minderheiten, oder sie kommt gleich nach der Ausländerarmut, wie in der Aufzählung der Gruppen, die besonders gefährdet sind, arbeitslos zu werden:

„- Personen ohne Ausbildung,

-Personen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen,

-20- bis 30jährige,

-ältere Arbeitslose

sowie

-Ausländer und

-Frauen (insbes. unter Berücksichtigung der stillen Reserve).“

Nun ist es nicht so, daß in den ersten Dreivierteln des Armutsberichtes weibliche Armut nicht vorkommt. Fortschrittliche Männer verschweigen sie nicht: „Jugendliche, Frauen, ungelernte Arbeiter mit niedrigem Einkommen, Personen mit prekären Arbeitsverhältnissen“ - sie alle sind in der Armut gleichberechtigt! Wenn eine Arbeiterfrau nach 35 bis 40 Versicherungsjahren 918 DM Rente hat und der Arbeiter nach der selben Zeit 1.330 DM bekommt so sind eben beide arm, und der Unterschied von 400 DM ist eben eine „Disparität“.

Auch fortschrittliche Männer (ver)mögen oft nicht zu erkennen, daß die entscheidende Ursache für die Armut und Abhängigkeit von Frauen in dieser Gesellschaft die unterschiedliche Art und Weise ist, in der gesellschaftlich notwendige Arbeit unter Männern und Frauen aufgeteilt und bewertet wird.

Leider bleibt auch der Exkurs „Armut und Frauen“ von Agnes Reichelt bei der Frage nach den Ursachen weiblicher Armut unpräzise, wenn sie schreibt: „Ursachen der Armut unter Frauen (finden) nicht allein in ökonomischen Gesetzmäßigkeiten oder Strukturelementen (...) ihre Beantwortung, sondern sind darüber hinaus durch geschlechtsspezifische Rollenmuster in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft bedingt....“

Das brachte die Sozialwissenschaftlerin Dr.Carola Möller in den vom DPWV herausgegebenen 'Blätter der Wohlfahrtspflege‘ (April 1988) wesentlich genauer auf den Punkt: „Wer in unserer Leistungsgesellschaft viel arbeitet, ist ärmer als diejenigen, die weniger arbeiten, aber gemäß den Marktgesetzen die gut bewertete Arbeit tun. Diese These gilt - abgesehen von den berühmten Ausnahmen - für etwa die Hälfte der Bevölkerung, nämlich für die Frauen.“

Facit: Der Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes liefert gute Argumente. Er zeigt die Spaltung der Gesellschaft in Zweidrittel, die mehr oder weniger vom Wohlstandskuchen abbekommen und ein wachsendes Drittel, das aussortiert wurde, das arbeitslos, krank, alt oder nicht gut ausgebildet - oder „Ausländer sowie Frauen“ ist. Bei der Frage nach den Ursachen weiblicher Armut fehlt es den Autoren offensichtlich an Kompetenz: Wessen sie sich schämen sollten

1 “... wessen wir uns schämen müssen, in einem reichen Land...“, Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für die BRD, Nov/Dez.1989, Stuttgart

2 W.Scherer: „Wie die Sozialämter Hilfsbedürftige abschrecken.“ Materialien zur Sozialarbeit und Sozialpolitik, Bd.16, Hrsg.: Fachhochschule Ffm