Plädoyer für das Ende der Vertriebenengesetzgebung

Sechs Thesen in rechtspolitischer Absicht  ■ D O K U M E N T A T I O N

1. Fast 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und mehr als 40 Jahre nach dem Ende der Vertreibung von Deutschen aus Osteuropa sollte die Vertriebenengesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland beendet werden. Dafür sprechen folgende Gesichtspunkte:

a) Die Ereignisse des Jahres 1989 in Osteuropa haben die realen Voraussetzungen der Nachkriegsordnung beendet. Die rechtliche Struktur der zwischenstaatlichen Beziehungen wird folgen. Das macht eine Anpassung der auf die Situation des kalten Krieges gezielten innerstaatlichen Rechtsstrukturen ebenso möglich wie erforderlich.

b) Die Grenzen sind in beiden Richtungen durchlässig geworden; der „Eiserne Vorhang“ und die generelle politische Unterdrückung sind Vergangenheit. Damit sind die Voraussetzungen für eine bevorzugte Aufnahme von Staatsangehörigen osteuropäischer Staaten entfallen.

c) Mit der Annahme eines auf Deutschen und ihren Abkömmlingen in Osteuropa lastenden „fortdauernden Vertreibungsdrucks“ schreiben die Innenverwaltungen von Bund und Ländern die Situation der fünfziger Jahre fort, ohne die seither eingetretenen Veränderungen zu berücksichtigen. Der „fortwirkende Vertreibungsdruck“ ist eine Fiktion. Die Abkömmlinge von Deutschen sind weitgehend assimiliert. Soweit deutschsprachige Minderheiten in osteuropäischen Ländern vorhanden sind, werden sie nicht diskriminiert.

2. Die Anwendung des Vertriebenenrechts bedeutet eine Fortsetzung nationalistischer Volkstumspolitik; sie sollte auch deshalb beendet werden. Nach Paragraph 6 BVFG wird ein Zuwanderer nur dann als Aussiedler oder Flüchtling anerkannt, wenn er oder seine Vorfahren sich vor dem 8.Mai 1945 „zum deutschen Volkstum“ bekannt haben. Dieses völkische Bekenntnis und die daran geknüpften Privilegien stehen in direktem Gegensatz zur Konzeption eines völkerverbindenden Neuanfangs durch das Grundgesetz. Die behördliche Feststellung des völkischen Bekenntnisses führt 45 Jahre danach zu abenteuerlichen Konstruktionen und absurden Recherchen.

3. Die gegenwärtige Privilegierung von Menschen deutscher Abstammung als Aussiedler und Vertriebene sollte nicht durch eine deutsche Volkstumspolitik in den osteuropäischen Staaten ersetzt werden, auch wenn diese Politik als Minderheitenpolitik deklariert wird. Deutsche Volkstumspolitik war in Osteuropa seit dem Kaiserreich ein Vorlauf nationalsozialistischer Germanisierungspolitik. Ein Wiederanknüpfen an diese Tradition muß daher traumatische Erinnerungen wecken und gefährdet den gesamteuropäischen Prozeß. Der Schutz ethnischer Minderheiten ist international im Rahmen der Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen und des KSZE-Prozesses zu fördern.

4. Artikel 116 GG steht einer Beendigung der Vertriebenengesetzgebung nicht entgegen. Diese Verfassungsnorm, die als „Deutsche“ neben den deutschen Staatsangehörigen „Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit“ bezeichnet, ist eine Übergangsvorschrift und gilt ausdrücklich „vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung“. In das BVFG sollte daher eine Bestimmung aufgenommen werden, daß Anträge bis zu einem Zeitpunkt zu stellen sind, der nicht später als drei Monate nach Inkrafttreten eines Abschlußgesetzes liegen sollte. Entsprechend sollte ein Schlußtermin für die Anerkennung der in der NS-Zeit vorgenommenen Sammeleinbürgerungen festgelegt werden. Die finanzielle Förderung der Vertriebenenverbände aus den Haushalten von Bund und Ländern sollte in eine allgemeine Förderung der Eingliederung von Minderheiten überführt werden.

5. Angesichts offener Grenzen der DDR und der dort eingetretenen politischen Veränderungen besteht kein Anlaß mehr, die Übersiedlung aus der DDR in die BRD zu fördern. Die finanzielle Begünstigung der Übersiedlung und die bevorzugte Vergabe von Arbeitsplätzen und Wohnungen an Übersiedler muß auch aus Gründen der Gerechtigkeit gegenüber benachteiligten Bürgern der BRD beendet werden. Insbesondere besteht kein Anlaß mehr, für Übersiedler Notquartiere bereitzustellen.

6. Die BRD ist ein dichtbesiedeltes Land mit erheblicher Arbeitslosigkeit und tiefgreifenden Problemen benachteiligter Schichten. Sie steht vor der ungelösten Aufgabe, das Wachstum von Produktion und Konsum den ökologischen Voraussetzungen dieses Landes anzupassen. Unter diesen Bedingungen ist eine Einwanderung von ca. 800.000 Menschen im Jahre 1989, die weit über die zusammengenommenen amerikanischen und australischen Einwanderungsquoten hinausgeht, ein schwerwiegender Tatbestand, der nicht planlos fortgeschrieben werden darf. Dies gilt gerade auch im Interesse der Zuwanderer, von denen viele ihre menschlichen und materiellen Erwartungen enttäuscht sehen werden. H. Rittstieg, 18.12.198

Professor Dr. Helmut Rittstieg lehrt Jura an der Universität Hamburg, ist Mitglied des AsJ und Mitherausgeber der 'Informationsbriefe für Ausländer'