: „Strafenfetischismus“ in der DDR
■ Rechtswissenschaftler: Zuviele hinter Gittern / Justizminister Wünsche wünscht sich „Radikale Justizreform“
Berlin (taz) - „Die DDR nimmt, was den Anteil von Strafgefangenen an der Bevölkerung betrifft, seit langem einen führenden Platz ein“, beklagt sich der DDR -Rechtswissenschaftler Professor Hans Weber in einem Artikel in der 'Jungen Welt‘. Die Ursache dafür sieht er in einem seit Anfang der 70er Jahre herrschenden „Strafenfetischismus“. Obwohl die Kriminalstatistik der DDR nur 120.000 Straftaten im Jahr ausweist, die der BRD aber vier Millionen, befänden sich in beiden deutschen Staaten fast gleich viele Gefangene hinter Gittern.
„Im Ergebnis eines einseitigen Schutz- und Sicherheitsdenkens“, moniert der Professor von der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, habe sich die Anzahl der Strafen mit Freiheitsentzug von 1971 bis 1988 immer mehr erhöht: auf schließlich 44,12 Prozent aller ausgesprochenen Strafen. Und das, obwohl sich die Gesamtzahl der Straftaten im gleichen Zeitraum um 8Prozent verringerte, die der Täter um 15 Prozent und der Verurteilten um 12 Prozent.
„Die Schwenkung zu einer verschärften Strafpraxis“, so erklärt der Professor, „wurde in den Jahren 1972/73 auf Betreiben des damaligen Generalstaatsanwalts willkürlich und abrupt herbeigeführt.“ Der Umschwung habe auf der Vorstellung beruht, man könne größere Erfolge bei der Bekämpfung der Kriminalität durch verstärkte Repression erreichen. „Mit dieser verschärften Strafpraxis“, so der Autor, „setzte sich die DDR im Gegensatz zur internationalen Strafrechtsentwicklung.“ Statt dessen hätten sich die Gefängnisse immer mehr gefüllt, und die Möglichkeiten der Strafgefangenen zur individuellen Entwicklung seien immer mehr eingeschränkt worden. Notwendig sei deshalb, schließt er, „eine Strafrechtsprechung, die den Strafenfetischimus überwindet“.
Ein ähnliches Anliegen, glaubt man seiner Kolumne in der gestrigen Ausgabe der LDPD-Zeitung 'Der Morgen‘, hat auch der neue DDR-Justizminister Professor Kurt Wünsche. Er wünscht sich eine „radikale Justizreform“. In der neu zu schreibenden Verfassung des Landes müsse das Prinzip der Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit festgeschrieben werden. Und vor allem das politische Strafrecht, „dieser Schandfleck in unserer Rechtsordnung“, bedürfe „dringend der gesetzgeberischen Korrektur“.
Wünsche behauptet zwar, daß „die weitaus meisten Verfahren nach rechtsstaatlichen Prinzipien durchgeführt“ worden seien, enthüllt aber gleichzeitig, wie direkt die früheren Machthaber in die Gesetzgebung und in die Prozesse hineinregierten. „Grundfragen der Tätigkeit der Justizorgane wurden in Leiter- und Stellvertreterberatungen aller Ebenen unter Einbeziehung der Sicherheitsorgane abgestimmt und vorentschieden. Unter Verletzung der Unabhängigkeit der Richter wurde in politisch sensiblen Angelegenheiten auf einzelne Verfahren Einfluß genommen, die mitunter bis hin zur konkreten Anleitung über die zu treffende Entscheidung reichte.“
usche
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