„Die sozialdemokratische Identität war tot!“

■ Eine 23jährige Frau organisiert in Ost-Berlin den Aufstieg der Sozialdemokratischen Partei / Sie heißt Anne-Kathrin Pauk, las vor anderthalb Jahren die Memoiren von Hans Mayer und ist deshalb nun die Vorsitzende des Berliner Bezirksverbandes

Das Buch lag angestaubt hinter verschlossenen Türen. Lesen durften es nur Auserwählte; diejenigen, denen von einem Professor ein „Giftschein“ verschrieben worden war. In den Besitz dieses Formulars, das zum Eintritt in die verbotenen Räume der Leipziger Universität berechtigte, kamen nur resistente StudentInnen: Solche, die den Inhalt des Werkes schon als revisionistischen Bazillus fürchteten, bevor sie auch nur mit einer Zeile in Berührung gekommen waren. Zu denen gehörte die Studentin deutscher Literatur und sowjetischer Geschichte, Anne-Kathrin Pauk, freilich nicht. Sie hatte von der Ansteckungsgefahr gehört und organisierte generalstabsmäßig ihre Infizierung.

Da das Mittelmeer als Urlaubsziel in diesem Jahr für Bürgerinnen und Bürger der DDR noch nicht in Frage kam, tourte Frau Pauk durch Osteuropa. Sie überquerte die Grenze nach Ungarn, reiste weiter in die Tschechoslowakei. Im Gegensatz zu vielen Landsleuten war sie nicht daran interessiert, dort in eine bundesdeutsche Botschaft zu flüchten, sie wollte die Botschaft und mit ihr zurück in die DDR. Ein Bekannter aus der Bundesrepublik hatte das Buch im Koffer und brachte es an ihren Urlaubsort. Frau Pauk begann zu lesen.

Vor der Rückreise nach Leipzig hat sie es absichtlich bekleckert und gekniffen, mit Eselsohren und Fettflecken übersäht. Die Grenzer hielten es für alt und unerheblich, der Blick auf die schwarze Liste entfiel. Dort wären der Autor Hans Mayer und der Titel „Ein Deutscher auf Widerruf“ vermerkt gewesen. (Siehe Kasten) Das alles war im Sommer 1988 - ein Jahr später bereitete Anne-Kathrin Pauk die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR vor. Heute ist sie die Landesvorsitzende des Ostberliner Bezirksverbandes und mit 23 Jahren vermutlich die jüngste Sozialdemokratin, die jemals so ein hohes Amt bekleidet hat. Nun fährt sie durch die Bezirke der Hauptstadt und organisiert mit Parteifreunden, die doppelt und dreimal so alt sind wie sie selbst, das Comeback der Sozialdemokratie jenseits der Mauer.

Diese Wiederkehr ist aber eher ein Auferstehen wie Phönix aus der Asche als das bewußte Anknüpfen an eine im Illegalen weiterlebende Tradition.

„Die sozialdemokratische Identität war tot“, meint sie knapp, und selbst die Leute, die „sozialdemokratisch“ dachten, hätten sich dieses Adjektiv nicht verpaßt. Sozialdemokrat war ein Synonym für Verräter oder Abweichler, im schlimmsten Fall sogar Sozialfaschist. Gegen die sozialdemokratische Idee sprach die geballte historische Wahrheit des wissenschaftlichen Sozialismus, „deswegen machten wir uns auf, eine andere Wahrheit zu finden“, erklärt sie. Die Memoiren des früheren Leipziger Literaturprofessors Mayer, der sich 1963 in den Westen absetzte, halfen ihr dabei. Mayer beschreibt unter anderem die Diskussion einiger Sozialdemokraten und Kommunisten gegen Ende der 20er Jahre. Er schildert auf kritische Weise die von den Kommunisten propagierte „Sozialfaschismus -Theorie“. Frau Pauk begriff, daß es auch noch was anderes gibt als die „reine Lehre“. Ein durch und durch theoretischer Einstieg in die Welt, die irgendwo zwischen Rosa Luxemburg und Gustav Noske liegt. Wie findet sich die 23jährige da zurecht?

Da sitzt sie beispielsweise am vergangenen Dienstag abend im Schummerlicht eines Restaurantsaales in Hohenschönhausen und schreibt zwischen Plaste und Elaste an ihrem Grußwort. Rund 100 Menschen wollen hier einen SPD-Kreisverband gründen und vermutlich wissen, wo's langgeht. Sie hat darauf geachtet, etwas früher zu kommen, „wegen der Stimmung, damit ich weiß, ob ich die aufmuntern muß oder nicht“. Das sagt sie wie ein Politprofi und stutzt plötzlich: „Irgendwie ist das schon komisch, daß ich das so mache!“ Und fügt nach einer Denkpause hinzu: „Wahrscheinlich wär's komisch, wenn ich das nicht mehr komisch finden würde.“

Sie schüttelt Hände, flitzt übers Parkett, hier gibt's noch keine Flugblätter, da muß ein Kopierer hin. Das hohe Amt erfordert vor allem kleinteilige Arbeit. Als die Sitzung beginnt, wird sie unter Beifall zum Rednerpult gerufen: Anne -Kathrin hat „immer noch Angst vor sowas“. Ihre Stimme ist ein bißchen zittrig, manchmal verliert sie den Faden. Sie spricht ins Mikrophon und kann deshalb ihre Stimme nicht hören - sowas macht nervös. Im Westen würde sie vermutlich auf einen Rhetorikkurs in eine Parteischule geschickt werden, im Osten muß man - glücklicherweise - noch durch die Schule der Partei. „Als Sozialdemokraten dieser Stadt durch die Mauer getrennt wurden, gab es diesen Stadtteil noch nicht!“ ruft sie dem scheuen Publikum zu und macht klar: Wir fangen von Null an. Daran können auch die von der West-SPD gespendeten Aufkleber und Plakate nicht viel ändern.

Ganze fünf Frauen haben sich in die sozialdemokratische Männerrunde „verirrt“. Die organisierte Opposition der DDR ist an der Basis vor allem eine Männerbewegung, da macht die SPD keine Ausnahme. Von den Herren der Schöpfung, die im Osten nicht weniger überheblich agieren als im Westen, fühlt sich die 23jährige deshalb manchmal „nicht für vollgenommen“. Dabei hat das die gelernte Lehrerin, die sich das Politikmachen gerade selbst beibringt, dringend nötig. Und wenn das Lob dann sogar von Walter Momper kommt, der ihren Auftritt in einer gemeinsamen Pressekonferenz anschließend in einem Vier-Augen-Gespräch als „richtig gut“ bezeichnete, zehrt sie davon noch tagelang.

Anne-Kathrin Pauk pendelt zwischen den Welten und sorgt dafür, daß sie zusammenwachsen. Sie gründet in Hohenschönhausen einen Kreisverband, bleibt eine Stunde, fährt mit der S-Bahn anschließend zum Rathaus Schöneberg, um dort mit anderen DDR-Oppositionellen und Momper zu diskutieren. Anschließend geht's ab in die Parteizentrale (West) in der Müllerstraße, da muß sie mal eben eine Zeitung machen. Das dauert bis vier Uhr nachts - der nächste Termin, die Besichtigung des neuen Bezirksbüros (Ost), ist am nächsten Tag um zwölf. Dann Fototermine, wieder Zeitung machen, Reden schreiben, Besuch beim Landesvorstand: Streß eben, der nicht mal bezahlt wird. Aber sie tut sich (noch) nicht leid wie der Politikertypus im Westen, der über seinen vollen Terminkalender klagt und gleichzeitig nach neuen Verabredungen geiert. Sie findet es „toll, neue, interessante Leute kennenzulernen“. Wenn sie Anfang Februar auf dem Bezirksparteitag wieder für den Posten kandidiert und gewählt werden sollte, „fällt für zwei Jahre eben das Privatleben weg“. Punktum.

Was die DDR-SPD inhaltlich ausmachen soll, das muß ihrer Ansicht nach erst noch ausgemacht werden. „Die Partei ist erst mal zu sozialdemokratisieren“ sagt sie. Zur Zeit gebe es eine „ungeheure Sympathiewelle. Die Sozialdemokraten gelten als die, die es hier besser gemacht hätten in den letzten 40 Jahren. Wir haben einen sauberen Namen.“ Tatsächlich boomt es bei den Ost-Sozis ganz unbeschreiblich. Aus den 500 Gründungsmitgliedern des Berliner Bezirks im November sind jetzt schon über 7.000 geworden, ein Ende des Zustroms ist nicht abzusehen. Die Ost-SPD, ein einziger Hoffnungsträger.Macht ihr das Angst? „Wir können keine Wunder vollbringen“, meint sie während ihres Grußwortes zum Parteivolk, das in dem schmucklosen Saal des Fünfziger-Jahre -Baus vor seiner Ost-Brause sitzt und das „Wunder“ lieber gestern als heute vollbracht sähe.

Und was sagt Pauks spiritus rector inkognitus zu der ganzen Angelegenheit? „Ja, da freu‘ ich mich natürlich, wenn mein Buch so eine Wirkung hat“, meint Herr Mayer am Telefon. Ihm geht es jetzt aber darum, „zu retten, was in der DDR trotzdem erreicht worden ist. Gegen die Wiedervereinigung bin ich sowieso!“ Und Frau Anne-Kathrin Pauk? „Die soll mir mal schreiben.“

Claus Christian Malzahn