Was ist zu tun?

■ Der spätere SPD-Fraktionschef war als junger Mann revolutionärer Anarchist und las den frischgebackenen Republikanern die Leviten. Ähnlichkeiten mit neuesten Konstellationen waren natürlich nicht beabsichtigt, sind ganz sicher aber nicht zufällig

Herbert Wehner

Durch die Novemberrevolution vom Jahre 1918 wurde die Monarchie von der Republik abgelöst. Das alte Regierungssystem brach mit dem verlorenen Krieg zusammen. Während sich die bisherigen Herrscher aus dem Staube machten, waren schon neue Männer da, die bereit waren, die leeren Regierungssessel zu belegen. Sofort nach dem Sturz der Monarchie dekretierten die Nachfolger, daß Ruhe die erste Bügerpflicht sei und daß die bewaffneten Revolutionäre ruhig in ihre Behausungen zurückzukehren hätten. So war es auch ganz natürlich; denn Leute, die nach der Regierungsmacht streben, brauchen keine Störenfriede, die es wagen, weiter vorzudringen, als es im Programm vorgesehen ist.

Die meisten Menschen fügten sich den Erlassen der neuen Männer und warteten auf das versprochene Himmelreich. Nur eine kleine Zahl entschlossener Kämpfer sah voraus, was notwendig kommen mußte, wenn die arbeitenden Massen tatenlos zusahen. Verzweifelt focht diese Minderheit, und vergebens versuchte sie, die Waffen mitzureißen. Ermüdet von dem langen Krieg und unfähig, ihr Geschick kühn in die eigenen Hände zu nehmen, verharren die Abeiter in ihrer Untätigkeit. Sie waren durch jahrzehntelangen Unterricht in Partei und Gewerkschaften daran gewöhnt worden, auf andere zu vertrauen. Ihr Sozialismus bestand darin, die Arbeit von den lieben Nächsten ausführen zu lassen. Einer wartete auf das Handeln des andern, und die einzigen, die etwas taten, waren einerseits die kaisersozialistischen Regierungsmänner und Anarchisten. Jetzt zeigten sich die Früchte der verderblichen Arbeit, die von den Sozialdemokraten bisher geleistet worden war. Immer hatte man dem Volke gesagt, daß Führer notwendig seien, und bei Festen und in den Parlamenten warfen sich diese Auserkorenen in Positur. Das „Volk“, dumm genug, den Reden Glauben zu schenken, unterstützte sie, wählte sie und betete sie an. Der „Atheismus“ der Sozialdemokraten machte halt vor den Parteipäpsten.

Was im November 1918 geschah, das war die zwingende Folge des Vorhergegangenen. In seiner langen Geschichte bewies das deutsche Volk Tausende von Malen, daß es das knechtseligste und zufriedenste aller Völker ist. Das gilt nicht nur für den Bürger! Die deutschen Arbeiter sind bestimmt spießbürgerlicher als die von ihnen oft geschmähten Bürger. Wer ist gesetzliebender und duckmäuserischer als ein deutscher Proletarier? Mit Recht sagte schon Max Stirner im Jahre 1845: „Das Volk ist ganz toll darauf, gegen alles die Polizei zu hetzen, was ihm unsittlich, oft nur unanständig zu sein scheint, und diese Volkswut für das Sittliche beschützt mehr das Polizeiinstitut, als die Regierung es nur irgend schützten könnte.“ In dieser Hinsicht äußerte sich das Volk bis heute nicht. Vor dem Kriege bestand die „revolutionäre“ Tätigkeit der meisten Arbeiter darin, zur Wahlurne zu gehen, dann und wann zu demonstrieren und Forderungen aufzustellen an die herschende Klasse, damit sie Reformen durchführen und gnädig sein sollte. Die Anzahl derer, die wußten, daß ihnen niemand helfen würde, wenn sie es selbst nicht täten, war immer verschwindend. Solche entschlossenen Revolutionäre wurden von den sozialdemokratischen Philistern bekämpft, indem sie als Provokateure, Spitzel oder „sexuell anormale“ Menschen hingestellt wurden. Das genügte, um alles, was sie sagten und taten, zu diskreditieren.

Scheidemann, Ebert und Noske, dieses leuchtende Dreigestirn am engen Horiziont des deutschen Sozialdemokraten, kamen sofort nach der „Umwälzung“ in leitende Stellen. Es war für sie nur ein Wechsel des Brotherrn; hatte doch Scheidemann schon während der letzten Zeit der Monarchie in Staatsdiensten gestanden. Eberts Verhalten während des Munitionsarbeiterstreiks ist den meisten Arbeitern bekannt durch den Prozeß, der vor nicht zu langer Zeit stattfand. Der Sattler und spätere Reichspräsident Ebert rühmte sich seiner patriotischen Gesinnung. Ein großes Heer ähnlicher „Sozialisten“ besetzte sofort die maßgebenden Stellen und hatte nur die eine Sorge: möglichst hohe und sichere Einkommen zu beziehen. Das System blieb das alte! Lediglich der Name des Staates wurde geändert. Der Staat selbst, der, gleichviel welche Form und welchen Namen er innehat, immer Unterdrückung der Freiheit und Vergewaltigung des wirklichen Lebens bedeutet, blieb unangetastet. Fortab wurden die Gesetze erlassen „im Namen des Volkes“, während es vorher „im Namen S.M. des Kaisers“ geschah. Ich aber behapte, daß die Freiheit und Eigenheit des einzelnen beschnitten wird, ob nun einer regiert oder viele.

Im Januar 1919 wählte das Volk eine Nationalversammlung zu dem Zwecke, daß sie eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Dann ging es, befriedigt darüber, daß es einmal mitbestimmen durfte, nach Hause und legte die Hände in den Schoß. Die Nationalversammlung trat zusammen und arbeitete, das heißt sie schaufelte das Grab der deutschen Revolution, bei deren Beginn manche Hoffnung auf ein Erwachen der deutschen Arbeiter rege geworden war. Alles mögliche nahmen die Parlamentarier in die Verfassung auf. Die neue Staatsform wurde verankert und gesichert.

Inzwischen gingen Jahre dahin, und heute können wir besser als je den Wert der Republik ermessen. Kühne Versuche sind unternommen worden, um den Gang der Dinge in andere Bahnen zu lenken. Ich erinnere an Max Hölz, den mitteldeutschen Aufstand, die Münchener Räterevolution. Die Reaktion, im Bunde mit den Republikanern, ging gegen die Aufständischen mit allen Mitteln vor, und sie fand für alle Maßnahmen eine gesetzliche Unterlage in der deutschen Verfasung. Die Zuchthäuser sind gefüllt mit Gefangenen, die nicht etwa als politische Gefangene bezeichnet werden; nein, das wäre zu offen! Die deutsche Republik hat ein fein ausgeklügeltes System der Rechtsprechung, mit dessen Hilfe es möglich ist, jeden, der rebelliert, als „kriminellen Verbrecher“ hinzustellen. Das ist für uns Anarchisten keine Schande, denn wir bekennen, Verbrecher zu sein gegenüber der heutigen „Ordnung“. Aber auf den frommen Menschen wirkt dieses „kriminell“ beruhigend. „Kriminelle“ Verbrecher können ja nach geltender Moral bestraft werden.

Hat der Arbeiter Vorteile in der Republik? Man wird entgegnen: „Er darf wählen.“ Aber diese Handlung ist ohne Belang. Durch die Abgabe meiner Stimme verzichte ich darauf, während der Legislaturperiode mitzubestimmen. Der Wähler legalisiert die Handlungen, die später gegen ihn unternommen werden. Es sind „Vertreter“ da, die für den anderen denken und handeln. Nachdem die Wahl stattgefunden hat, versinkt der Wähler wieder in Unmündigkeit. Eifrige Republikaner werden mir entgegenhalten, daß als letzter Ausweg der Volksentscheid offensteht. Aber der Volksentscheid ist nur eine umständlichere Form des Parlamentarismus. Worüber auch das „Volk“ entscheiden soll, niemals darf der Gegenstand der Abstimmung ein staatsfeindlicher sein.

Wir aber wollen unsere Handlungen selbst bestimmen. Der einzelne hat selbst sein Leben zu gestalten. Die erste Notwendigkeit ist die Zerstörung des Staates! Die Mittel hierzu bestehen nicht in der „Eroberung der politischen Macht“ im bestehenden Staate. Dadurch setzt sich die Kette der Unfreiheit nur weiter fort. Die Arbeiter haben sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, die Betriebe zu übernehmen und mit bewaffneter Hand zu verteidigen. Der bewaffnete Aufstand ist unumgänglich notwendig, um ein Ende zu machen mit dem Bestehenden. Die Arbeiter müssen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen, sich besinnen, daß sie eine ungeheure Macht sind - wenn sie wollen! In den Betrieben, in Propagandistengruppen schließen sich die zusammen, die es ernst nehmen mit der Freiheit.

Es ist keine Zeit zu verlieren! Was nützen Aufzüge mit Musik und ähnliche Theaterstückchen? Die Ausbeutung und Beherrschung dauert fort, wenn auch der Arbeiter in seiner freien Zeit durch Umzüge sich auf den Straßen zeigt. Arbeitslosigkeit besteht trotz sogenannter politischen Freiheit; und von Jahr zu Jahr nimmt das Elend zu.

Was ist also zu tun?

Klarheit muß herrschen über das, was heute ist. Alle, die es unter ihrer Würde halten, beherrscht zu werden von Gesetzen, vereinigen sich, um dem Staate und den Kapitalisten eine Macht entgegenzusetzen, die nicht mit sich handeln läßt. Unsere Gruppen sind Keimzellen für das neue Leben, das ich abspielen wird ohne Zwang, basierend auf freien Verträgen.

Alle Kräfte gilt es zu sammeln zum Kampfe gegen die Republik und den Staat überhaupt, gegen das Parlament und alle anderen Institutionen, die Machtinstrumente sind in den Händen der Kapitalisten. Nochmals sage ich: Es ist keine Zeit zu verlieren, denn sonst kann es sein, daß wir alle untergehen im Dreck. Der erste Schritt, den jeder tun kann, ist, sich frei zu machen von dem Untertanengemüt. 'Revolutionäre Tat‘, Nr. 1

Mai 192