: „Nichts greift“ in Gießen
Wo „das Lager“ ist, das weiß in Gießen beinahe jedes Kind. „Zentrale Aufnahmestelle“ - auch das Schild auf dem Bahnhofsvorplatz ist unübersehbar, und die meisten Ankommenden folgen mit ihren Koffern und Plastiktaschen diesem Wegweiser. Rund 2000 Übersiedler aus der DDR kommen täglich in die Bundesrepublik. Gut die Hälfte von ihnen landet in Gießen, in der „Zentralen Aufnahmestelle Hessen“, wie „das Lager“ im Amtsdeutsch heißt. 500 bis 1000 Neuankömmlinge werden hier tagtäglich registriert und in den engen Vier- und Sechsbettzimmern von „Haus Sachsen“ oder „Thüringen“ einquartiert, bis sie nach zwei bis drei Tagen quotengemäß auf andere Bundesländer verteilt werden.
Längst ist es im Lager Gießen ein offenes Geheimnis, über das aber niemand laut sprechen darf: Die soziale Schichtung der Übersiedler hat sich in letzter Zeit deutlich verändert, und das nicht gerade zum Vorteil. Was Sozialwissenschaftler der Ruhruniversität Bochum Anfang dieser Woche in einer Langzeitstudie herausgefunden haben, ist hier in der Kantine, an der Kleiderausgabe, in den Aufenthaltsräumen offenkundig: Die größte Gruppe der Übersiedler sind derzeit alleinstehende junge Männer, darunter viele mit niedrigem Schulabschluß.
Deutlich riechbar flattern einige Alkoholfahnen durch die Gänge. Bei etlichen der jungen Neuankömmlinge lassen Tätowierungen am Arm oder im Gesicht eine Knastkarriere im Osten erahnen. Man spricht nicht gern darüber, möchte keine Vorurteile schüren, aber es ist so: Öfter als früher ist die Polizei hier „zu Gast“, weil es Probleme mit und unter den Bewohnern gibt.
Warum kommen diese Menschen erst jetzt, wo sich die DDR doch verändert hat? „Im Herbst, da war noch Hoffnung“, sagt Karl aus Bischofswerder bei Dresden, „jetzt ist die Luft raus da drüben. In all den führenden Positionen sitzen noch die alten Leute. Was soll sich da verändern? Alles ist eher noch schlimmer geworden.“ Was er erzählt, kriegt man allenthalben im Aufnahmelager zu hören. Seit vier Tagen sind der 25jährige Karl und sein Freund Lothar in der Bundesrepublik. Die ehemaligen Landsleute heißen längst „die drüben“. Und „die drüben haben keine Chance. Die Industrie ist dermaßen verrottet, die kann man doch nur noch abreißen und nochmal abreißen.“
„Wer arbeiten will, findet auch Arbeit!“, diesen Ausspruch hat der Sozialarbeiter L. in der Beratungsstelle der Aufnahmestelle Gießen die letzten Wochen tausendfach zu hören gekriegt. Daß Frauen aus der DDR bei der Arbeitssuche völlig hintenrunterfallen und sogar ihre Eingliederungshilfe vom Arbeitsamt verlieren, wenn sie arglos angeben, natürlich hätten sie noch keine Betreuungsmöglichkeit für ihre Kinder, das versuchen die Sozialarbeiter ihren Klienten oft vergeblich klarzumachen. „Es greift einfach alles hinten und vorne nicht“, zuckt Sozialarbeiter L. die Achseln. Die individuelle Einzelfallbetreuung hat er angesichts der Massen längst aufgegeben. „Bei vielen läuft das langfristig auf Sozialhilfe hinaus, und die Kosten werden auf die einzelnen Gemeinden abgewälzt“, meint er. „Egal was passiert in der DDR, die Leute werden weiter kommen“, lautet seine Einschätzung. „Das ist eine soziale Zeitbombe, die tickt. Und niemand räumt sie weg.“
Eine Kürzung der Sozialleistungen, wie sie jetzt im Gespräch ist, würde da wenig helfen. „Die Leute glauben ohnehin, daß sie bald Arbeit finden und dann aus dem Gröbsten raus sind.“ Aber auch „daß der Oskar“, der Lafontainsche, „eigentlich recht hat“, wenn er vorschlägt, die Leute sollten sich erst Wohnung und Arbeit suchen, bevor sie kommen dürften, hört man hinter vorgehaltener Hand bei den Sozialarbeitern in Gießen. Nur machbar sei das wohl nicht. Eine Lösung? Nein, die weiß auch Sozialarbeiter L. nicht, die gäbe es wohl erst, wenn der Lebensstandard in der DDR ähnlich hoch wäre wie hier.
L. kann nicht verhehlen, daß ihn seine Arbeit im Lager immer ratloser macht und bei allem Verständnis für seine Klientel auch immer aggressiver. Vielleicht liegt es daran, daß er sich zu häufig seinen Weg zur Arbeit durch mürrische Menschenmassen bahnen muß, vielleicht ist es auch die eigene Hilflosigkeit. Jedenfalls stößt ihm eine - wie er meint, zunehmende - Anspruchshaltung der DDR-Übersiedler mächtig auf: „Bei der Kleiderausgabe, die eigentlich nur für Bedürftige sein soll, stellen sich einige hin und halten erst einmal eine Modenschau ab. Dann fangen sie noch an zu diskutieren, weil ihnen die Farbe des Pullovers nicht paßt, und hinterher finden die Putzfrauen dann die Sachen im Mülleimer wieder. Das schafft böses Blut.“ Die Stimmung gegenüber Übersiedlern in der Bevölkerung sei ohnehin schon auf gefährliche Weise gekippt. Wenn er abends in Kneipengesprächen nach seinem Beruf gefragt wird, murmelt er deswegen nur knapp: „Sozialarbeiter“. Seine Arbeitsstätte „Zentrale Aufnahmestelle für Übersiedler“ nennt er lieber nicht.
Vera Gaserow
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