„Wir müssen an die Leute ran...!“

■ Aids-Konferenz in Ost-Berlin / Fachleute fordern Ent-Staatlichung des Themas / Aids-Aufklärung soll an die Basis / Positiven-Cafe auch für Ost-Berlin gefordert / Banales Problem: Schlechte Gummis, kein Gleitgel

„Die Verhältnisse haben sich geändert. Die Probleme werden deutlicher. Aids ist dabei keine Ausnahme.“ So stand es auf der Einladung zur „1. Aids-Konferenz der Basisgruppen der DDR“. Die Resonanz war dann eher schwach, nur rund 30 Leute

-Mediziner, Psychologen und Vertreter von Schwulengruppen oder -klubs - waren der Einladung des Aids-Gesprächskreises Berlin am Samstag gefolgt. Nichtsdestotrotz begann man mitten im Prenzlauer Berg sofort eine angeregte Diskussion aus verschiedensten Sichten über das, was jetzt anders gemacht werden müsse - oder wie die bisher staatlich verordnete Aids-Politik verändert oder ergänzt werden soll. Einig waren sich alle, daß die Behandlung des Problems wohl nicht mehr Sache der Mediziner allein sein dürfte. „Wir müssen da an die Leute ran, wo sie sozial gebunden sind. Wer über seine Ängste redet, will sich nicht erst erklären müssen. So arbeiten können aber nur die Gruppen an der Basis, die mit den Lebenssituationen vertraut sind“, so Uwe Zobel vom Aids-Gesprächskreis Berlin. Das wichtigste sei nicht, Anlaufstelle für Infizierte zu sein, sondern über das Verhindern einer Infektion zu reden. Differenzierte, grupppenspezifische Aufklärung - daran mangele es in der DDR. Staatliche Aids-Politik sei immer davon ausgegangen, Schritte in Betroffenengruppen wären nicht notwendig. Was dahinter gestanden habe, sei wohl die Philosophie „Der Staat macht alles“. Noch wird die epidemiologische Situation in der DDR als äußerst günstig angesehen. Bis zum 1.12.89 waren lediglich 83 infizierte DDR-Bürger bekannt, von denen bisher 16 erkrankt sind. Sieben Aids-Kranke sind verstorben.

Informationsmaterialien, die auf besonders gefährdete Zielgruppen zielen, gibt es viel zu wenig in der DDR. Und wenn sie vorhanden sind, werden sie oft nur über sogenannte Bezirks- und Kreiskabinette für Gesundheitserziehung verteilt. Hemmschwellen verhindern, daß Basis-Gruppen wirklich erreicht werden. Insgesamt gäbe es, so Prof. Stange, Philosph an der Ost-Berliner Akademie für Ärztliche Fortbildung, ein „Defizit in unserer Gesellschaft im Denken über Gesundheit und Krankheit“. Es müsse eine öffentliche Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Herzlosigkeit geben, um jegliche moralische Bewertung von Krankheiten zu vermeiden. Von seiner Arbeit in der Aids-Beratungstelle an der Charite berichtete Dr. Jürgen Koelzsch. Mit wirklich Betroffenen gäbe es gute Kontakte. Sie arbeiten auch in sogenannten Positivgruppen. Zur umstrittenen Frage der gesetzlich vorgeschriebenen Meldepflicht sagte er nebulös, es würde kameradschaftlich mit dem Betroffenen besprochen, ob und wie Partner benachrichtigt werden.

Um Berührungsängste der Öffentlichkeit abzubauen, forderte er die Einrichtung eines „Positiven-Cafes“ - ähnlich dem in West-Berlin. Durch zwanglose Kontakte könne dann der Zustand beendet werden, daß Infizierte eher im Westen als im Osten offen über ihr „Positiv-Sein“ sprechen. Wieviel oder wie wenig Schüler über Aids wissen, zeigten die Aussagen zweier Schülerinnen aus dem Prenzlauer Berg. „Eigentlich läuft sowas immer ziemlich peinlich ab, wenn die Lehrer dabei sind.“ Zusätzliche Info-Veranstaltungen würden so gut wie nicht genutzt, weil zu oft Lehrer, zu denen man kein Vertrauen hat, dabei wären. Das bestätigte auch Steffen Paul vom Aids-Gesprächskreis Berlin, der berichtete, daß Veranstaltungen mit Lehrern meist „klemmig“ sind. Eine Berufsschullehrerin aus der Republik beklagte völlig unzureichendes eigenes Wissen. Wie problematisch sie gerade die Arbeit mit ganz jungen Leuten sieht, formulierte Frau Prof. Baumgarten von der Infektionsklinik Prenzlauer Berg: „Den Jungen, für die alles noch so neu und aufregend ist, kann ich kein Gummi empfehlen, da macht man was kaputt.“ Sie sei auch dagegen, „Angst zu verbreiten“.

Zu den ganz banalen Problemen in der DDR gehören unmöglich verpackte Kondome - die Stanniolverpackungen gehen meist nur mit Hilfe der Zähne auf - sowie das völlige Fehlen von Gleitgels auf Wasserbasis. Obwohl nicht von allen Gruppen, die sich der Problematik annehmen, Leute da waren, einigten sich die Anwesenden darauf, einen Dachverband „Aids-Hilfe der DDR“ zu bilden. Der soll sich dann um die Koordinierung aller Aktivitäten kümmern. Auch will man jetzt endlich an der Arbeit der Aids-Beratergruppe beim Minister für Gesundheitswesen beteiligt werden.

Sabine Schwalbe