Der verbotene Fetzer

■ Defa-Schubladenfilme sorgen nach 30 Jahren für unfreiwillige Heiterkeit

Wo, wo, wohin ist der Möörder entschwuunden“, haucht eine Frauenstimme, während ein junger Mann durch die neblige Studiokulisse hetzt. Dann das Gesicht eines feisten Fleischfressers. Aha, der Inbegriff des dekadenten, verderbten Westlers Anno 1962. Genauso wie die pummelige blonde Venus, die im 50er Jahre Nachtclubambiente einen Striptease hinlegt, während die Stimme dazu verführerisch summt: „Armut ist die Süünde, sündige nicht hiinfort.“ Ich kann nur mit Mühe das Lachen unterdrücken. Mein Sitznachbar wechselt empört den Platz. Schließlich ist das hier eine ernste Sache. Es geht um Wiedergutmachung.

Wie schon in den vergangenen Wochen stehen an diesem Freitag abend in der Akademie der Künste in Ost-Berlin verbotene Filme auf dem Programm. Der Verband der Film- und Fernsehschaffenden der DDR hat angesichts der Wende eilig beschlossen, alle nichtaufgeführten Produktionen endlich aus den Giftschränken der Defa zu befreien und dem nach Wahrheit lechzenden DDR-Volk die verborgenen Schätze zu zeigen. Diesmal stehen zwei 30 Jahre alte Fernsehfilme des Autorenteams Günter Stahnke und Günter Kunert auf dem Programm: Fetzers Flucht und Monolog für einen Taxifahrer.

Diese Filme, in denen Walter Ulbricht seinerzeit staatsfeindliche Tendenzen auszumachen meinte, wirken aus heutiger Sicht mitunter unfreiwillig komisch. Im „Fall Fetzer“ soll es nicht Ulbricht selbst, sondern seine Frau gewesen sein, die als erste an der Ausstrahlung des Films im DDR-Fernsehen im Jahre 1962 Anstoß nahm. Sie machte ihren Gatten, der gerade aus der Sowjetunion von einer angestrengten Diskussion mit dem Genossen Chruschow über den aufkeimenden Formalismus in der sozialistischen Kunst zurückgekehrt war, auf einen sonderbaren Defa-Film aufmerksam, dessen Titel schon hellhörig werden läßt: Fetzers Flucht. Ulbricht ließ sich das Werk noch einmal vorführen, erkannte darin die untrüglichen Merkmale eben jenes schändlichen Formalismus und verbot jede weitere Aufführung. Dabei waren sich die Autoren keinerlei Schuld bewußt gewesen.

Fetzers Flucht war auf der Grundlage einer Funkoper gleichen Titels von dem Defa-Komponisten Kurt Schwaen entstanden. 1959 hatte sie bei einem Festival in Prag noch eine Auszeichnung erhalten. Das Libretato stammte von Günter Kunert. Zusammen mit dem Defa-Regisseur Günter Stahnke schrieb Kunert auch das Drehbuch für die Fernsehoper, ein nicht nur für damalige Zeiten recht ungewöhnliches Genre. Das Lehrstück - junger Republikflüchtling tötet bei seiner Flucht einen Wächter und wird nun von seinem schlechten Gewissen verfolgt - wurde in bester Brecht/Weillscher Theatertradition inszeniert. Die Welt ist schwarz und weiß, der Unterschied zwischen oben und unten, gut und böse berückend einfach, und am Ende die Moral, „zu erkennen sich als eig'nen Feind“. Der Text, komplett aus dem Off gesungen, unterstreicht den theatralischen Gestus der Protagonisten. Wenn den Mörder Schuldgefühle plagen, zischt der unsichtbare Chor „Gewissen, Gewissen“, „Mißtrauen, Mißtrauen“.

Zuerst lobten die DDR-Kritiker das Werk noch überschwenglich, doch nach Ulbrichts Formalismusvorwurf wurde es ungemütlich für die beiden Autoren. Ihr zweiter Film Monolog für einen Taxifahrer wurde erst gar nicht gezeigt. Kunerts weitere Geschichte ist bekannt. Der Dichter verließ nach jahrelangen zermürbenden Querelen die DDR und lebt und arbeitet seither in der BRD. Stahnke wurde 1966 wegen seines Kinofilms Der Frühling braucht Zeit endgültig aus der Defa verbannt. Auch dieser Film wanderte sofort in die Schublade.

Auch dem heutigen Berachter sticht der strenge Formalismus dieser Filme sofort ins Auge. Doch was Ulbricht damals für ungemein gefährlich hielt, sorgt heute für unfreiwillige Komik.

Daß die naive Schwarz-Weiß-Malerei in Fetzers Flucht nach dreißig Jahren eher zum Schmunzeln reizt, spürte auch Günter Stahnke, der bei der späten Wiederaufführung in der Akademie anwesend war. Er will sein Erstlingswerk nicht nochmal ins Fernsehen bringen. Auch Komponist Schwaen hegt Bedenken, daß der Film wegen seiner eigenwilligen Form und Musik von der an Rockmusik gewöhnten Jugend nicht mehr richtig verstanden werden kann, ein Eindruck, der sich allerdings bei der Vorführung in der Akademie nicht unbedingt bestätigen ließ. Das überwiegend junge Publikum lachte nicht, oder wenn, dann nur ganz leise. Auch bei der anschließenden Diskussion blieben die Anwesenden ruhig und ernst. Viel zu ernst für meine Begriffe.

Warum lacht in der DDR niemand über die offensichtliche Harmlosigkeit der Schubladenfilme? Natürlich, ich weiß, sie haben alle unter der allgegenwärtigen Kontrolle gelitten. Das muß erst einmal bewältigt werden, und zwar mit dem nötigen Ernst. Darüber macht man keine Witze. Und schließlich darf man sich doch über die verfemten Regisseure nicht auch noch lustig machen. Doch gäbe man mit mit einer Spur Humor nicht gerade diejenigen der Lächerlichkeit preis, vor denen man sich jahrelang gefürchtet hat, die Ulbrichts, Honneckers und Hagers. Das schmälert keineswegs das Ansehen der betroffenen Regisseure. In Berlin-West jedenfalls hätte Fetzers Flucht gute Chancen zum Kultfilm zu avancieren, und das nicht, weil er so revolutionäre Gedanken transportiert, sondern weil er einfach komisch ist. Soweit ist man in der DDR noch lange nicht. Aber schließlich hat Comander McLanes Raumpatroille Orion, die einmal mit sehr viel Ernst fürs deutsche Fernsehen produziert wurde, auch gute 20 Jahre gebraucht, bis sie ein begeistertes Kinopublikum fand, das sich vor Lachen nur noch krümmte.

Ute Thon