Euthanasie-Betr.: "Erklärung Berliner PhilosophInnen", taz vom 10.1.90, Leserbrief dazu vom 18.1.90

betr.: „Erklärung Berliner PhilosophInnen“, taz vom 10.1.90, Leserbrief dazu vom 18.1.90

Vielleicht sollte der Verfasser des Briefes selbst einmal über den eigenen Tellerrand hinausschauen. (...) Ich habe nichts dagegen, wenn jemand das Leben von Tieren respektiert. Wenn aber Singers Ethik als Rechtfertigungsgrundlage dafür dient, daß schwer geistig Behinderte getötet werden dürfen, dann wird diese Tierliebe makaber. Wo ist die „demokratische Redlichkeit“, wenn dazu aufgerufen wird, eine Diskussion zu tolerieren, die ernsthaft darum bemüht ist, das Lebensrecht einer Minderheit, noch dazu eine, die sich nicht einmal verbal dagegen wehren kann (die daher einen ganz besonderen Schutz genießen sollten), in Frage zu stellen?

Singer ruft vielleicht nicht direkt zum Mord auf, aber jedenfalls legitimiert beziehungsweise legalisiert er den Mord an Behinderten, wenn er schreibt: „Die Tötung eines behinderten Säuglings ist... sehr oft... überhaupt kein Unrecht.“ Euthanasie beginnt mit der philosophischen Rechtfertigung, für die Durchführung sorgen dann andere!

(...) Wer im Zusammenhang mit der Euthanasie-Diskussion auf die Meinungsfreiheit pocht (das heißt die Diskussion toleriert) und sich nicht gleichzeitig für das Lebensrecht (wie die Berliner PhilosophInnen) einsetzt, ist für mich ein „potentieller Mörder“!

Winfried Voggel, Konstanz

(...) Da wird bejammert, daß „Singer zur Unperson“ erklärt wird, der „Euthanasie-Vorwurf“ soll „völlig aus der Luft gegriffen“ sein? Um es auf den Punkt zu bringen: Singer ist es, der Menschen zu „Unpersonen“ erklärt. (...) Daß Singer sich für eine gerechtere Weltwirtschaft oder Abschaffung der Massentierhaltung ausspricht, hindert ihn nicht daran, in dem Euthanasie-Kapitel seines Buches eindeutig eugenisches Denken zu verbreiten. Eugenik gab es nicht nur zwischen 1933 und 1945, ihre Wurzeln liegen weit davor, und diese Art zu denken dauert bis heute an.

In den hiesigen humangenetischen Beratungsstellen materialisiert sich dieses Denken! Menschen mit Behinderungen und solche, die sich der Normierung kapitalistischer Verwertbarkeitsmuster entziehen, werden in Anstaltsghettos gesteckt, in Psychiatrieknästen eingesperrt, von allen nur denkbaren Ebenen der gesellschaftlichen Teilnahme isoliert. Dagegen werden ganzheitliche Integrationsmodelle, wie sie zum Beispiel am Fachbereich Behindertenpädagogik der Uni Bremen entwickelt wurden, politisch und gesellschaftlich bekämpft! Solange es Aussonderung, Auslese und Ausmerzung bestimmter Menschen gibt, ist der Widerstand und Protest gegen Singer, Anstötz, Kliemt und Co. notwendig und legitim! Es darf keine Diskussion über das Lebensrecht bestimmter Menschen geben, nicht an Universitäten, in der Politik, noch in anderen Zusammenhängen, erst recht nicht in einem Staat, der seine faschistische Vergangenheit nicht bewältigt hat.

Martin Kühn, STUGA Beh.-Päd. der Uni Bremen

betr.: „Erklärung Berliner PhilosophInnen“, taz vom 10.1.90

Bleibt doch cool und regt Euch nicht über die PhilosophInnen auf der kurzen Liste auf! Es „gibt durchaus eine Verantwortung des Wissenschaftlers, wenigstens dann, wenn es keinen heroischen Einsatz verlangt, für die Freiheit der Wissenschaft einzustehen“, hat unser Kliemt in Duisburg wörtlich gesagt, nein, geschrieben! Aber was ist mit dem Recht darauf?

Herr Singer hat irgendwo gesagt, es gehe nicht um Rechte, sondern um Interessen. Wägt man also streng präferenzutilitaristisch die Interessen der PhilosophInnen, ihre Thesen von der unterschiedlichen Personenhaftigkeit und der daraus abgeleiteten Verfügbarkeit des Lebens bestimmter Gruppen zu verbreiten ab gegen die Interessen der Gesamtheit der Nicht-PhilosophInnen einschließlich der noch nicht gezeugten potentiellen Nicht-PhilosophInnen (denn nach Singer müssen ja auch die Interessen von nicht existenten Individuen berücksichtigt werden), welche „auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte“ einen Mißbrauch befürchten und sich deshalb mit einiger Berechtigung ängstigen, was wiederum ihr Glücksgefühl erheblich mindert, so müssen wir, da wir nach unserem Birnbacher in Duisburg zumindest um die Konstanthaltung der „Gesamtsumme des Glücks“ (vereinfacht auch Bruttosozialglück genannt) bemüht sein, die Interessen der Nicht-PhilosophInnen über die Interessen der PhilosophInnen zu stellen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Das um so mehr, als uns die Berliner PhilosophInnen ausdrücklich „eine besondere Sorgfaltspflicht bei dieser Thematik“ auferlegt haben.

Bleibt der Einwand, daß PhilosophInnen Wesen mit Zeitgefühl, Verstand (na ja), Selbstbewußtsein, Rationalität und Kommunikationsfähigkeit sind, auf die das Merkmal „Person“ mit einem Recht auf Leben zutrifft. Dies bringt uns aber nur scheinbar in einen gewissen Legitimationszwang, denn bei Singer finden wir erfreulicherweise auf Seite 190 in „Should the Baby Live?“, Oxford University Press, 1985, den Hinweis, daß es „keinen Zweck hat, ein behindertes Kind am Leben zu lassen, auch wenn es das Potential für ein lohnenswertes Leben hat, wenn es kläglich in einem“ (offenbar miesen) „Heim dahinvegetieren muß“. Personenhaftigkeit ist also ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für ein Recht auf Leben. Daß sich die Pflicht zum Tod hier offensichtlich aus der miserablen finanziellen Ausstattung des Heimes herleitet, wollen wir dezent übergehen. Festhalten kann man aber, daß das, was für ein munteres Kind gilt, auch für PhilosophInnen übertragen werden muß. Sonst wäre die Theorie ja nicht konsistent. Wir können daher, mehr aus wissenschaftlicher Neugier als aus Altruismus, von der reinen Lehre des Ethik-Übervaters abweichen und die PhilosophInnen, statt sie zu euthanasieren, ins australische Outback verbannen, wo sie ein Ashram gründen und ihre Theorien im Selbstversuch verifizieren können. Das Bruttosozialglück wird davon nicht berührt, da wir ihnen ja mit der Verbannung, quasi durch konkludente Handlung, das Merkmal Person entzogen haben und sie deshalb nicht mehr in Rechnung gestellt werden müssen.

Was im übrigen ihre Auffassung betrifft, daß jemand, „der nur einige von Singers Positionen teilt und andere nicht... vor der schwierigen Aufgabe (steht), zu zeigen, daß dies widerspruchsfrei möglich ist“, läßt auf eine gewisse Betriebsblindheit schließen. Mögen sich doch bitte deshalb alle LeserInnen melden, die Tiere schützen können, ohne hilflose Menschen euthanasieren zu müssen, und trotzdem an diesem philosophischen Widerspruch bisher nicht zerbrochen sind.

Wilma Kobusch, Essen

Die gewaltfreie Auseinandersetzung mit den Thesen Singers ist in einer Zeit wieder zunehmender Behindertenfeindlichkeit in breiter Öffentlichkeit unbedingt notwendig!

Wer allerdings über den Ansatz der Leidvermeidung Euthanasie rechtfertigen will, argumentiert ausschließlich moralisch und handelt anmaßend, weil niemand für einen anderen Menschen entscheiden kann und darf, ob dieser unter seinem Zustand leidet oder nicht.

Singer, als Philosoph und Ethiker, nicht als jemand, der täglich mit Behinderten lebt und arbeitet, suggeriert eine „rationale Abwägung“. Gerade aber in der Quantifizierbarkeit, das heißt in einem Schlüssel für oder gegen Formen menschlichen Lebens liegt die Menschenverachtung.

Gefragt ist hier nicht mein Mitleid, sondern mein massives Eintreten für die Wahrung elementarer Menschenrechte!

Eckhard Melang, Gelsenkirchen