Das Ich und das Es und Beethoven

■ Zwei Bücher und drei Platten, die jeder Deutsche im Schrank haben sollte

Elisabeth Eleonore Bauer

Nichts ist so alt wie die Revolution vom letzten Jahr. Das Bicentenaire der Französischen zum Beispiel wurde überraschend rasch vergessen, wenn man bedenkt, wie ausgiebig die Feier vorbereitet worden war. Und die sogenannte Sächsische ist, kaum ins Rollen geraten, sogleich von den Zuschauern im ersten Rang als historisch bezeichnet worden. Besonders bedrucktes Papier hat heutzutage rasante Verfallszeiten: Eines der hier rezensierten Werke war, kaum sechs Monate auf dem Markt, bereits als Remittendenexemplar im modernen Antiquariat zu haben. Um so besser, so wird die Wahrheit eben immer schneller immer billiger.

Anfang '89 ist etwas Komisches passiert oder vielmehr, nicht passiert. Augsteins große Artikelserie zum 1789er -Jubiläum, gleich am 2.Januar gestartet, leuchtete zwar kritisch und genüßlich den gesamten Verlauf der Französischen Revolution und deren Folgen aus, sogar was die Rolle der bildenden Künste und die der Frauen anbelangt. Doch die Musik der Revolution wurde einfach ignoriert. Erst recht ihre immerhin erhebliche Wirkung auf den größten deutschen Komponisten aller Zeiten: Der Name Beethoven tauchte kein einziges Mal auf. Dabei hatte der nicht nur, wie jedes Schulkind weiß, eine seiner Sinfonien dem Napoleon Bonaparte widmen wollen - Beethovens epochemachender Instrumentalstil ist ohne den elan terrible der Französischen Revolution gar nicht zu denken, und umgekehrt wurde dann später aus „Beethoven in France“ ein ganz besonderes Kapitel Musikgeschichte. Abgesehen von den in jeder besseren Biographie anschaulich vorgeführten Notenbeispielen von revolutionären Märschen und Hymnen, die in der ersten bis hin zur neuen Sinfonie Beethovens nachzuweisen sind, gibt es da noch jenen legendären französischen Doppelgänger der Schicksalssinfonie, von dem dann Robert Schumann meinte, bei so frappanten Parallelen müsse unbedingt ein Plagiat vorliegen. Selbstverständlich ging Schumann davon aus, Beethoven sei plagiiert worden und nicht etwa umgekehrt - und er schrieb weiter über diese schöne g-moll-Sinfonie des Etienne Nicolas Mehul: „So wenig unterschieden von deutscher Sinfonienweise erscheint sie uns, dabei gründlich und geistreich, daß wir sie auswärtigen Orchestern nicht genug empfehlen können.“ Was offenbar ernst genommen wurde, denn zumindest deutsche Orchester pflegen dies und andere Musik von Mehul schon lange nicht mehr zu spielen. Sogar in Frankreich scheint er nur noch dem Namen nach in Erinnerung zu sein, etwa als der Komponist des Chant du depart oder der Hymne a la raison: Denn die einzig nennenswerte Einspielung seiner sämtlichen Sinfonien, die im vergangenen Jahr endlich auf den Markt kam, hat ein Orchester aus Lissabon vorgelegt. Übrigens ist die Frage, wer da von wem abgekupfert hat, überflüssig. Es war kein Diebstahl, es war ein seltener Fall von Parapsychologie oder vielmehr der Zeitgeist, der da unbedingt nach ganz bestimmten harmonischen und rhythmischen Wendungen verlangt hat: Mehul komponierte seine erste Sinfonie aus g-moll, die im letzten Satz wie eine Kontrafraktur des ersten Satzes aus Beethovens Fünfter klingt, exakt zur gleichen Zeit wie jener und in rund 1.000 Kilometer Entfernung.

Gegen Ende '89 rächte sich nun die oben erwähnte 'Spiegel' -Ignoranz auf schrecklichste Weise. Und zwar mit dem Abrakadabra eines amerikanischen Star-Dirigenten, der, angestiftet von Musikmanager Justus Frantz und gratis im Dienste der Aktion Wiedervereinigung, den frischvermählten Großberlinern zu Weihnachten Beethovens Neunte bescherte, in Ost und West, mit Musikern aus New York, Paris, London und Leningrad sowie mit einem aktuellen Text: „Dies ist ein Augenblick, den der Himmel gesandt hat, um das Wort Freiheit immer dort zu singen, wo in der Partitur von Freude die Rede ist. Ich bin sicher, daß Beethoven uns seinen Segen gegeben hätte. Es lebe die Freiheit!“ Soweit Leonhard Bernstein. Die Tutti knallten dann so recht titanisch, und als es endlich im letzten Satz so weit war, rollte die Freiheit dem Solobassisten wahrhaftig mächtig von den Lippen. Weil man aber die Wiedervereinigung, zumal die musikalische, nicht einfach so den Besatzungsmächten überlassen kann, schob Kurt Masur, der selbsternannte Held von Leipzig, schnell zu Sylvester eine bodenständige Neunte nach, die wiederum via TV in alle deutschen Wohnzimmer flimmerte.

Mitte '89 kam ein Sachbuch heraus, auf dessen Waschzettel folgende einwandfrei richtigen ersten Worte zu lesen sind: „Mit den großen Werken abendländischer Tonkunst hat es eine traurige Bewandtnis: Man zelebriert sie, will aber nichts über sie wissen.“ Im übrigen hat das Buch zwei Autoren, 412 Seiten und widmet sich ausschließlich einem einzigen großen Werk, nämlich Beethovens sinfonia eroica. Um diesen so unwirtschaftlichen Aufwand begreifen zu können, muß man wissen, daß vor circa zwölf Jahren im Verlag Roter Stern ein anderes Sachbuch erschienen war mit dem wundervollen Titel: Warum wir von Beethoven erschüttert werden. Der majestätische Plural bezog sich selbstverständlich auf das, was sich damals noch pauschal „die Linke“ nannte, und die in dem Bändchen versammelten Essays befaßten sich mit dem Problem, was wir für ein Verhältnis haben zur Musik - wobei mit Musik ausschließlich das gemeint war, was man damals noch ganz selbstverständlich als „klassisches Erbe“ bezeichnete. Der Herausgeber des Bändchens aber fand sofort auf Seite drei die klassische Formulierung für „unser“ aller Problem: „Das Verhältnis zu dieser Musik ist ähnlich kompliziert wie das zu Eltern.“

Weiter erzählte er freimütig von seinem Vater, wie der, „als ich klein war und abends im Bett lag, Beethoven -Klaviersonaten“ gespielt habe und dann über „Unebenheiten und Widersprüche nicht so gern reden“ wollte. Lieferte im folgenden einen populärwissenschaftlichen Abriß zur Entwicklung des bürgerlichen Konzertbetriebs mit den weiland üblichen kultursoziologischen Gemeinplätzen, auf die näher einzugehen heute nicht mehr nötig ist - jedoch: warum wir nun gerade von Beethoven so erschüttert werden, wußte er am Ende doch nicht zu sagen. Der dies 1978 geschrieben hat, war der Flötist, Saxophonist und Musikwissenschaftler Peter Schleuning, heute Akademischer Rat in Oldenburg und Verfasser vieler Musikbücher, unter anderem des o.g. eroica-Buches, das, wie es einleitend heißt, „gegen die Bewußtlosigkeit, mit der hierzulande klassische Musik gehört und verwendet wird“, angehen soll. Weiter hinten wird wiederum der klavierspielenden Väter gedacht: „Es muß ja nicht so bleiben“, hofft da der Co-Autor Martin Geck, seines Zeichens Professor der Musikwissenschaft, „daß wir das Beethoven-Zimmer als Gedenkstätte konservieren, anstatt gründlich zu lüften und selbst einzuziehen.“ Es handelt sich also um das Buch zum... nun ja, vielleicht sollte man sagen, zur zeitgemäßen Beethoven-Hygiene. Ob damit aber auch die alte unbeantwortete Frage: warum wir von Beethoven so erschüttert werden - vom Tisch und also gewissermaßen das Buch zum Titel endlich nachgeliefert worden ist?

Der erste Teil berichtet von der „Tat des Prometheus“: von der Entstehungsgeschichte der dritten Sinfonie Beethovens, die geschrieben wurde auf Bonaparte - versehen mit einigen analytischen Bemerkungen und einem langen Vorspann zu Beethovens Kindheit und Jugend. Viele Zitate, viele Quellenbelege, viele Querverweise und keine Neuigkeiten in der Sache. Es wäre ja auch ein bißchen viel verlangt, wenn man bedenkt, daß die Eroica-Literatur längst ein bis zwei Regal-Meter braucht - immerhin: Schleuning schreibt wissenschaftlich exakt auf, von wem er was hat. Er selbst steuert Deutungen bei oder vielmehr: Vermutungen („Sollte Beethoven nicht etwa...? Vielleicht hat Beethoven...? Wie reagiert Beethoven...?“ usw.) Das ist stilistisch auf die Dauer ermüdend und doch bei längerer Lektüre das eigentlich Interessante. Denn wie bereits anfangs ganz vertraulich vom jungen „Ludwig“ die Rede ist, der vielleicht und möglicherweise einen prägenden Vaterkomplex gehabt habe, der sich später aufs Werk auswirkte (über den Prometheus-Stoff der Ballettmusik op.43 bis hin zur Prometheus-Sinfonie, der Eroica) - so kommt es auch später zwischen den Zeilen und beinahe in jedem zweiten Satz immer wieder zu einer familiären Vertrautheit zwischen dem Autor und seinem Gegenstand, die fast symbiotisch anmutet. Schleuning weiß nicht nur genau, wie Beethoven sich gefühlt haben muß, er fühlt selbst so. Mit anderen Worten: Er kennt Beethoven so gut wie sich selbst. Und abgesehen von allen Peinlichkeiten, die aus dieser Konstellation entstehen, hat er damit irgendwie vollkommen recht: „Bürgerliche sind kompliziert, vor allem, wenn sie so klug und sensibel sind wie Beethoven. Sie liefern keine klaren Konzepte, sondern fordern dazu auf, mitzuarbeiten und nachzuvollziehen. Daß dies bei wortloser Musik sehr schwierig ist, im Grunde genommen unmöglich, ist ein Ergebnis deutschen Bewußtseins und Denkens in der Zeit um 1800.“

Und das dauert an. Bürger Beethoven und Bürger Schleuning sind sich einig in ihren „spezifisch deutschen Arbeits- und Denkformen“, aber auch in ihren Selbstzweifeln und ihrem Relativismus sowie in der gewissen jovialen Hybris, mit der sie sich anderen überlegen fühlen und ihnen (quasi also den Nicht-Bürgern) verklickern, wie schwer das Leben ist und wo es langzugehen hat. Insofern unterscheidet sich das Beethovenbild, das Schleuning für sich entwirft, nur graduell von den mannigfachen Beethovenbildern der Väter, von denen er sich abgrenzt und die sein Co-Autor Geck im zweiten Teil des Buches vorführt: die „Taten der Verehrer“. Eine kenntnisreiche und vielleicht gerade deshalb ambivalente, halb kritische, halb apologetische Abrechung mit der Eroica-Rezeption, angefangen bei den Zeitgenossen Beethovens bis hin zu unserem jüngst verstorbenen Zeitgenossen Carl Dahlhaus. Die Botschaft des Buches aber läßt sich etwa auf die folgenden Formeln bringen: Beethovens Kompositionen sind Ideenkunstwerke. Diese Ideen sind summa summarum die Ambivalenz des bürgerlichen Subjekts. Ambivalent heißt: ein bißchen schrecklich, aber trotzdem faszinierend. Wie wir Deutschen eben so sind. Deshalb werden wir von Beethovens Musik so erschüttert: Denn in ihr kommt das Ich mit dem Es und dem Überich voll zur Deckung.

Die Identifikation geht so weit, daß die Autoren, ganz wie Beethoven, fest davon überzeugt sind, daß sie mit ihrem Werk der Menschheit dienen. Ein bißchen lästig ist das schon, wie sie sich da dauernd wechselseitig und gelegentlich auch selbst auf die Schulter klopfen und loben, wie „wichtig, spannend, aufregend, Lebendigkeit ausstrahlend“ ihr Buch doch sei, wie ein „Krimi“ gar zu lesen (was wirklich nicht wahr ist: dafür ist es denn doch ein bißchen zu musikwissenschaftlich betulich) und dergleichen mehr. Hoffentlich ist es wenigstens als Witz gemeint, wenn Schleuning abschließend vorschlägt, dieses Buch möge, falls es sich einmal erweist, daß „alle meine Untersuchungsergebnisse der historischen Wahrheit entsprächen“, zur „Zwangslektüre für die Konzertbesucher“ werden.

Ganz im Ernst sollte dieses Sachbuch jetzt schon, historische Wahrheit hin oder her, allen Beethovenfans und dazu noch allen guten Deutschen auf den Nachttisch gelegt werden. Denn erstens ist es erfreulich ehrlich, zweitens begegnet man darin manchem alten Bekannten, und drittens läßt sich damit, sozusagen in einer Hand - und zwar egal, ob man die linke oder die rechte nimmt - der ganze Glanz und das ganze Elend der deutschen Musik-Philologie abwägen. Freilich sollte man sich dann zum Ausgleich auch in die Küche ein Beethovenbuch stellen: Die Gute Kocherey - Aus Beethovens Speiseplänen. Ein schmales Bändchen, das schlagend beweist, daß Philologen nicht immer umsonst arbeiten, und daß die beschwerliche Edition der Beethovenschen Konversationshefte auch nahrhafte Früchte tragen kann (das waren die Zettel, auf denen die Gesprächspartner des ertaubten Meisters ihre Fragen und Antworten notierten; was er selbst sagte, kann man daraus erraten). Martella Gutierrez-Denhoff hat nun daraus sowie aus zahlreichen Briefen und anderen Quellen zusammengesucht, was Beethoven gerne essen mochte und was nicht, wie es um seine Verdauung, um die Kochkünste seiner jeweiligen Haushälterin und überhaupt um seine Bratkartoffelverhältnisse bestellt war.

Kostprobe gefällig? “'Brav, brav, hier seh ich Fische! Ja, Fische esse ich gern‘, soll Beethoven ausgerufen haben, als der englische Klavier- und Harfenbauer Stumpff 1824 bei seinem Besuch in Baden hatte Fisch auftischen lassen. (...) Sogar über seinen Tod hinaus hat Beethovens regelmäßiger Fischverzehr Spuren hinterlassen, denn unter den Verlassenschaftspapieren wird als Passivposten eine erst nach Beethovens Tod bezahlte Fischrechnung vermerkt: 'Der Fischhändlerin Theresia Ernest für dem Hrn Erblasser gelieferte Fische laut Quittung G bezahlt, 2 fl. 11xr.'“ Das ist doch wahrhaftig gut zu wissen.

Etienne-Nicolas Mehul, The complete symphonies. Orchestra of the Gulbenkian Foundation Lissabon, Ltg. Michel Swierczewski. Nimbus Records 1989, NI 5184/5

Ode an die Freiheit - Bernstein in Berlin. Beethoven: Symphonie Nr.9 d-moll, Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks, Rundfunkchor Berlin-DDR, Kinderchor der Philharmonie Dresden sowie Mitglieder des Orchestre de Paris, der New Yorker und der Londoner Philharmoniker, des Kirow-Orchester Leningrad, mit June Anderson, Christa Walker, Klaus König, Jan-Hendrik Rootering, Ltg. Leonard Bernstein. Deutsche Grammophon 1990, 429861-2 DDD

Beethoven, 9.Symphonie, Gewandhausorchester Leipzig und Rundfunkchor Leipzig mit Sharon Sweet, Jard van Nes, Reiner Goldberg und Franz Grundheber, Ltg. Kurt Masur. Bei Philipps Classics ab demnächst

Alle drei Aufnahmen als CDs

Martin Geck/Peter Schleuning: Geschrieben auf Bonaparte. Beethovens Eroica: Revolution, Reaktion, Rezeption. Reinbek 1989, 412 Seiten, 24,80 DM. rororo-Sachbuch Nr.8568

Martella Gutierrez-Denhoff: Die gute Kocherey. Aus Beethovens Speiseplänen. Beethoven-Haus, Bonn 1988, Heft 7 der Jahresgaben. 39 Seiten, 12 DM