„Kinder streiten manchmal schon um Apfelreste“

Die Armut in Polen nimmt zu: Infolge der Preisfreigabe sind die Lebenshaltungskosten rapide angestiegen / Ein funktionierendes Sozialhilfesystem gibt es noch nicht, und die öffentlichen Kassen sind leer / Am härtesten betroffen sind alleinstehende Mütter, Kinder, Behinderte und Alte  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

Die alte Frau stellt ein verbilligtes Joghurt, dessen Verfallsdatum überschritten ist, auf die Ladentheke, dann noch eine Flasche Milch und schließlich legt sie noch ein einzelnes Brötchen dazu. „Wieviel kostet das?“ fragt sie. Dann kramt sie aus der Tasche ihres abgewetzten Mantels langsam einige Geldscheine heraus, zählt sie sorgfältig ab und glättet sie. Während die Verkäuferin das Wechselgeld abzählt, packt die alte Frau sorgfältig ihre Einkäufe ein. Damit wird sie heute auskommen müssen, für mehr reicht es nicht.

Solche Szenen sind in Warschau inzwischen alltäglich geworden. Selbst wer kein Fleisch und keine Wurst ißt, sondern sich nur von kalten Speisen, Milchprodukten, Brot und etwas Obst ernährt, ist durch die Preissteigerungen inzwischen gezwungen, zirka 10.000 Zloty pro Tag auszugeben, das heißt 300.000 Zloty im Monat. Der Durchschnittsverdienst beträgt in Polen zur Zeit 500.000, die meisten Renten erreichen nicht einmal die Hälfte davon. Liegt das Einkommen pro Kopf unter 250.000 Zloty (umgerechnet 50 DM), springen die karitativen Organisationen ein. Doch mit Wohltätigkeitskonzerten und Spendenaktionen läßt sich das nötige Geld für inzwischen knapp eine Million Bedürftiger nicht aufbringen. Vielen bleibt nichts anderes übrig, als sich in den Suppenküchen des Roten Kreuzes zu verköstigen. Wie die Renten, so hinkt auch die staatliche Sozialhilfe hinter der Inflationsentwicklung her.

Besonders alleinstehende Mütter mit ihren Kindern bekommen das zu spüren - bei Scheidungsprozessen setzen die Gerichte den vom früheren Ehemann zu zahlenden Unterhalt meist nur pauschal fest, die Inflation entwertet das Geld dann oft schneller, als es ausbezahlt wird. Im Extremfall kann sich eine Frau, die für ihren monatlichen Unterhalt vor zehn Jahren noch einen Wintermantel bekam, jetzt gerade eine Flasche Milch dafür leisten. Sieben bis acht Prozent der alleinstehenden Mütter leben bereits jetzt unterhalb der Armutsgrenze. Die Richter machen nur selten von der Möglichkeit Gebrauch, vom Einkommen des geschiedenen Ehemanns abhängige Unterhaltszahlungen festzusetzen. Im Sozialministerium wird deshalb erwogen, die Zahlungen aus dem speziellen staatlichen Sozialfonds für geschiedene und verwitwete Frauen und deren Kinder so aufzustocken, daß sie zusammen mit den Unterhaltszahlungen auf jeden Fall 25 Prozent eines Durschnittseinkommens erreichen. Doch wenn schon drei Viertel des Einkommens im Landesdurchschnitt für die Ernährung draufgehen, ist auch das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, zumal es ungefähr 600.000 alleinstehende Mütter im Lande gibt.

Die Folgen dieser Entwicklung beschreibt die Warschauer Tageszeitung 'Zycie Warszawy‘ so: „Jede siebte alleinstehende Mutter hat mehr als zwei Kinder. Diese Kinder beginnen früher zu arbeiten als ihre Altersgenossen, oft schon im Alter von 16 Jahren, haben öfter Gesundheitsprobleme, wiederholen Klassen und jedes zehnte von diesen Kindern muß bei Verwandten untergebracht werden, weil die Mutter es nicht ernähren kann.“

Immer mehr Kinder kommen bereits hungrig in die Schule, weil das Frühstück ausgefallen ist. Eine Lehrerin: „In meiner Schule streiten sich die Kinder manchmal schon um Apfelreste.“ Eine wachsende Zahl von Familien kann es sich in der Tat nicht mehr leisten, ihre Kinder in den Schulkantinen verköstigen zu lassen. Über 2.000 Zloty kostet dort inzwischen eine bescheidene Mahlzeit schon. In einem Warschauer Vorort haben sich bereits Dominikanermönche der hungrigen Schüler angenommen.

Die um sich greifende Armut ist vor allem auf die Preisfreigabe Anfang Januar zurückzuführen. Bis dahin waren zumindest einige Lebensmittel billig, weil subventioniert. Zugleich mußte man natürlich oft stundenlang Schlange stehen, um sie einzukaufen. Nun gibt es keine Schlangen mehr, selbst Brot kostet inzwischen über 2.000 Zloty. Wer täglich nur einen halben Laib der billigsten Brotsorte ißt, muß pro Monat nur für Brot zehn Prozent eines Durchschnittseinkommens ausgeben. Man stelle sich vor, in der Bundesrepublik würde ein Leib Brot 25 DM (in Österreich 200 Schilling) kosten. Auch eine Subvention der Verbraucherpreise hätte unter den gegebenen Umständen nicht die gewünschte Wirkung: Viele, die es eigentlich nicht nötig hatten, kauften im letzten Jahr den wirklich Armen zum Beispiel die subventionierte Magermilch, um das Geld für Vollmilch zu sparen, die das Zehnfache kostet.

Der einzige Trost, den die Regierung spenden kann: Noch zwei Wochen durchhalten, dann fallen die Preise, weil die Produzenten merken, daß sie nicht mehr alles auf die Verbraucher abwälzen können. Waldemar Kuczynski, Wirtschaftsberater Mazowieckis: „Die Leute werden dort kaufen, wo es am billigsten ist und so Preissenkungen erzwingen.“ Tun sie bereits, allerdings ist das wenig gesund. Wem nämlich Fleisch und Wurst in den Läden zu teuer sind, der kann auch auf den Straßen einkaufen - direkt vom Lieferwagen. 17 von 53 kontrollierten „fliegenden Fleischern“ konnten allerdings nicht nachweisen, daß ihr Fleisch veterinärärztlich kontrolliert war - die Salmonellen waren gratis. Die relativ hygienischen Läden hingegen sind überwiegend in der Hand des Monopolisten „Spolem“. Und der hatte schon nach der Einführung der freien Lebensmittelpreise im letzten Jahr gezeigt, daß er das Fleisch im Zweifelsfall eher verschimmeln läßt, als die Preise zu senken.

Kurz gesagt: Bis es besser wird, kann es noch dauern. Die Umverteilung der Subventionen von den Produzenten auf die Verbraucher stößt - so sinnvoll sie wäre - einstweilen noch auf immense Schwierigkeiten. Die Ausgabe von Essenbons kam gar nicht erst zustande, weil die Nationalbank technisch nicht in der Lage war, die Bons zu drucken und auszugeben. Das gleiche Problem stellt sich bei der Verteilung von Geldern. Bis staatliche Gelder vor Ort in den Gemeinden angekommen sind, vergehen oft Wochen. Und eigene Mittel haben die Gemeinden nicht, eine kommunale Selbstverwaltung gibt es in Polen nicht. Das allerdings soll sich bald ändern. In seiner Rede vor dem Parlament hat Mazowiecki angekündigt, den Gebietskörperschaften das Recht auf Selbstverwaltung zuzuerkennen und bereits im April vorgezogene Kommunalwahlen durchzuführen. Wenn die Gemeinden nicht mehr am Tropf der Warschauer Zentrale hängen, kann auch die Sozialhilfe vor Ort effektiver verteilt werden. Daß dringend etwas geschehen muß, ist auch der Regierungszeitung 'Rzeczpospolita‘ klar: „Besser Schülermahlzeiten subventionieren, als später Dreißigjährigen Invalidenrenten bezahlen“.