: Das Schweigen ist gebrochen
Nach den Russen, Tschechen und Ukrainern entdecken Polens Intellektuelle nun die Deutschen wieder / Selbstkritik ist angesagt ■ Warschau Klaus Bachmann
„Jetzt“, meint Jacek Czaputowicz, „ist es Zeit, sich damit öffentlich zu beschäftigen.“ Der Warschauer Publizist und Gründer der Pazifisten- und Umweltgruppierung „Freiheit und Frieden“ zieht ein kleines Pamphlet aus seinem umfangreichen Bücherschrank. 'Czas Przyszly‘, zu deutsch 'Die kommende Zeit‘, ist ein Untergrundbulletin einer WIP- (d.h. Freiheits - und Friedens-) Gruppe, das vor anderthalb Jahren erschien. Darin enthalten auf über zehn eng beschriebenen Seiten die Erinnerungen von Zofia Schubert. „Hier ist das zum ersten Mal erschienen“, erzählt Jacek, später habe es dann noch eine kleine katholische Zeitschrift gekürzt. Eine rege Debatte in der Redaktion war dem vorausgegangen. Denn Zofia Schubert ist deutscher Abstammung, lebt heute noch in Tarnow in Südostpolen, und was sie in ihren „Erinnerungen aus Lager und Gefängnis“ beschreibt, war für viele polnische Leser schwer verdaulich. Zofia Schubert wurde nach dem Einmarsch der Roten Armee in Polen als Deutsche verhaftet und interniert. Jahrelang wurden sie und ihre fünfjährige Tochter in polnischen Lagern und von polnischen Milizionären gefoltert, verprügelt, schikaniert und ausgehungert. Noch im Sommer 1983 wurde ihr Sohn Adam von polnischen Polizisten als „deutsches Schwein“ beschimpft und so verprügelt, daß er nach längerem Krankenhausaufenthalt für arbeitsunfähig erklärt wurde. Das Verfahren gegen die Polizisten wurde eingestellt.
Solche Aspekte des deutsch-polnischen Verhältnisses waren praktisch von Anfang an symbolisch belastet. Gleich mehrmals wies etwa Bundeskanzler Kohl bei seinem Polenbesuch im November auf die „zwei Millionen Deutsche“ hin, die bei Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen seien. Und prompt protestierte daraufhin das polnische Außenministerium: Es sei eine Geschichtsklitterung, Polen für diese zwei Millionen verantwortlich zu machen. Stimmt: Die zwei Millionen sind eine Schätzung der Zahl all jener Deutscher aus den Gebieten des deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 und dem damaligen polnischen Staatsgebiet von Polen, die zwischen 1944 und 1948 zu Tode kamen. Gleich, ob sie, während der chaotischen Zwangsevakuierung durch die Nazibehörden, bei unorganisierter Flucht durch Vergeltung der Roten Armee oder eben durch polnische Partisanen, Milizionäre oder bei der zwangsweisen Umsiedlung vor und nach dem Potsdamer Abkommen ums Leben gekommen sind. Daß die „Umsiedlung“, wie die Vertreibung in polnischen Darstellungen genannt wird, allerdings human und „nicht ohne gewissen Komfort“ vor sich ging, ist eine Beschönigung, die selbst von polnischer Seite in Frage gestellt wird.
In Gang gekommen ist die Debatte weniger durch Kohls mißglückte Vergleiche, als durch das tatsächliche Problem der deutschen Minderheit in Schlesien. Der offizielle polnische Standpunkt war bisher stets, daß es eine solche Minderheit nicht gebe. Begründung: Die Angehörigen dieser vermeintlichen Minderheit hätten sich 1945 bei der Überprüfung der Volkszugehörigkeit selbst als zu Polen gehörig bezeichnet. Was nur dann ein Argument wäre, wenn die Option für die deutsche Nationalität nicht mit außerordentlichen Härten belastet gewesen wäre. Und das war sie in der Tat, wie gerade das Beispiel Zofia Schubert zeigt. Die Auseinandersetzung mit polnischen Übergriffen auf die deutsche Zivilbevölkerung nach 1944 hat man sich in Polen daher lange erspart. Verschwiegen wurden dabei sowohl jene Übergriffe, die in der Presse der Allierten beschrieben wurden, als auch die zahlreichen Arbeitslager, in denen überwiegend Frauen und Kinder unter unmenschlichen Bedingungen gefangengehalten und ausgehungert wurden. Selbst heute noch ist in Polen über diese Lager praktisch nichts bekannt. Eines davon, Potulice bei Bydgoszcz, war zuerst ein Arbeitslager für Polen unter deutscher Besatzung und wurde dann von Polen in ein Lager für Deutsche umfunktioniert. Nach Aussagen von Insassen starb die Hälfte der Gefangenen nach 1945 an Unterernährung und Mißhandlungen.
Der jetzige polnische Außenminister Skubiszewski schrieb 1968: „Die deutschen Umsiedler hatten viel Gepäck und Verpflegung, gesicherte ärztliche Pflege und reisten unter ordentlichen Bedingungen.“ Edmund Dmitrow war der erste in Polen, der das in Frage stellt. 1987 erschien sein Buch Die Deutschen und die Hitlerokkupation in den Augen der Polen. Gerade die Flut von Befehlen, die den polnischen Behörden humanes Verhalten gegenüber den Deutschen abverlangten, lasse darauf schließen, daß es mit der Humanität nicht so weit her gewesen sein könne, folgerte er. Ein anderer Autor hatte sich schon vor ihm mit dem Thema beschäftigt: Jozef Mackiewicz, polnischer Exilschriftsteller und radikaler Antikommunist, hatte es auch leichter: Er hatte weder mit der Zensur noch mit den komplizierten innenpolitischen Verhältnissen in Polen zu tun. Als Antikommunist ging es ihm vor allem darum, den polnischen Kommunisten die antideutsche Karte zu entwerten.
Das Schweigen im eigenen Land zu brechen, war für Polen vor allem auch deshalb schwierig, weil die Vorwürfe von deutscher Seite ausschließlich aus der nationalkonservativen Ecke, unter anderem von den Funktionären der Vertriebenenverbände, kamen, die mit dieser Art von „Vergangenheitsbewältigung“ ganz konkrete politische Absichten verbanden. Erst im Rahmen der Debatte über alle in Polen lebenden Minderheiten hat auch eine Diskussion über die Deutschen eingesetzt. Und immer mehr polnische Publizisten brechen nun ihr langes Schweigen über das deutsch-polnische Verhältnis unmittelbar nach 44. Zum Jahresende 1989 druckte etwa der katholische 'Tygodnik Powszechny‘ einen langen Artikel über „Polen und Deutsche in Schlesien“. Jacek Ruszczewski darin über das Verhalten der polnischen Behörden gegenüber Schlesiern: „Es blühten Willkür und Inkompetenz, es breiteten sich Gewalt, Korruption und Verwilderung der Umgangsformen und Alkoholismus aus. Damals wurden viele Fehler begangen, deren Folgen man heute noch beobachten kann.“ Das betrifft, wie bereits Stefan Bratkowski, Vorsitzender des polnischen Journalistenverbandes beschrieb, vor allem das Verhältnis zum eigenartigen Selbstgefühl der schlesischen Bevölkerung. Die sei weder polnisch noch deutsch gewesen, erst hätten die Nazis sie eingedeutscht, dann seien sie mit der Polonisierung zwangsbeglückt worden. Kein Wunder, so lautet immer häufiger die Schlußfolgerung in der polnischen Presse, daß sich viele von ihnen heute wieder mit Deutschland identifizieren.
Nicht immer finden solche Folgerungen Beifall. Auf Bratkowskis Artikel folgte eine wütende und polemische Erwiderung in der 'Trybuna Ludu‘. Doch die steht inzwischen ziemlich alleine da im politischen Spektrum. Seit die Zensur ihre Bedeutung nahezu vollkommen verloren hat, sind unter Polens Intellektuellen bei der Aufarbeitung der deutsch -polnischen Beziehungen selbstkritische Töne zu hören. Nach der Wiederentdeckung der Ukrainer, Tschechen und Russen folgt nun die Wiederentdeckung der Deutschen - trotz nach wie vor verbreiteter Angst vor dem westlichen Nachbarn und der im Vergleich zu anderen Nachbarn ungleich größeren historischen Belastung. Ein Zeichen dafür: Der Klub der katholischen Intelligenz in Wroclaw beabsichtigt, auf dem Gelände des Moltkebesitzes in Krzyzowa (Kreisau) ein internationales Forschungs- und Begegnungszentrum aufzubauen. Einer der Mitgründer: der holländische Historiker Ger von Roon, Spezialist für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Dort soll unter anderem der Widerstand gegen Hitler in Deutschland und die Geschichte der deutschen Minderheit in Polen aufgearbeitet werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen