Der Ausstieg der DDR

■ Die Enthüllungen über das Atomkombinat Greifswald

Was wäre mit der DDR-Revolution geschehen, wenn den Kraftwerkern am 24.November die Notabschaltung des wild gewordenen Reaktors in Greifswald nicht mehr gelungen wäre? Diese Frage provoziert ähnliche Gänsehäute wie die gesamte übrige jetzt vom 'Spiegel‘ enthüllte Endlos-Liste von dramatischen Ereignissen, Sicherheitsverstößen und schweren Unfällen im DDR-Atomkombinat „Bruno Leuschner“. Wenn es in einen Reaktor hineinregnet, wenn beim Brennelementewechsel mit Feuerwehrsprungtüchern hantiert wird und der gesamte Atompark unterm wegsackenden Fundament wie der Schiefe Turm von Pisa dasteht, dann hat auch der Laie begriffen, was los ist. Es geht nicht mehr um die Beinahe-Katastrophe. Dieses Atomkraftwerk ist die Katastrophe.

Der jetzt bekanntgewordene „Zustand“ von Greifswald bedeutet nicht mehr und nicht weniger als der - zumindest vorläufige - Ausstieg der DDR aus der Atomenergie. Ein Weiterbetrieb der vier Reaktorblöcke erscheint undenkbar, ihre Nachrüstung mit bundesdeutscher Sicherheitstechnik wird selbst von Befürwortern der Atomenergie als aussichtslos bezeichnet.

Kommt Greifswald aber vom Netz, wäre die DDR nach Österreich das zweite Land in Mitteleuropa ohne Atomstrom. Mit der AKW-Bauruine in Stendhal, deren Zukunft völlig ungewiß ist und der angestrebten Stillegung des Mini-AKW in Rheinsberg herrscht auch an den beiden anderen Atomstandorten der DDR Funkstille. So bietet das Atom-Fiasko von Greifswald dem östlichen Nachbarn trotz allem auch eine energiepolitische Chance. Ob die Zukunftsvision einer Energieversorgung ohne Atomkraftwerke und bei einer gleichzeitigen Reduzierung der Braunkohleverfeuerung in den alten Dreckschleudern allerdings durchsetzbar ist, diese Frage wird die DDR nicht allein beantworten.

Mit dem Rücken an der Wand muß sie dem aggressiven Marketing-Feldzug der bundesdeutschen Atomindustrie standhalten. Die Geier warten schon: Nach den in der BRD geplatzten Atomträumen wollen sie eine längst überholte Energie und die dümmste Art, Wasser zu kochen - mit Uran -, jetzt der DDR als „Hilfe zur Selbsthilfe“ andrehen. Die Versuchung wird groß sein, die Konditionen sind verlockend. Eine Zukunft ganz ohne Atom, also auch ohne die Importe von Atomstrom, wollen selbst AKW-Gegner in der DDR nicht mehr ausschließen. Doch am Ende könnten diese Stromimporte vielleicht eine strahlende Zukunft für die DDR verhindern: nämlich den Bau weiterer Atomkraftwerke - made in (Wild)West -Germany.

Manfred Kriener