Das Prinzip Hoffnung heißt Willy Brandt

Die SPD Thüringen wurde in Gotha an historischer Stätte neu gegründet / Sozialdemokratischer Schnellzug rollt weiter durch die DDR / Alle wollen Willy sehen / Vorsitzender des thüringischen Landesverbandes wird dagegen ausgepfiffen  ■  Aus Gotha Reinhard Mohr

„Willy, ich bin hier!“ schreit ein Mann aus der Menge der etwa 30.000 Menschen auf dem Hauptmarkt in Gotha, nachdem der Ehrenvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (West) seine letzte Rede dieses Tages beendet hat. Die Leute verstehen diesen „Hilferuf“, lachen und gehen im Dunkel des Abends auseinander. Willy Brandt hat ihnen eine halbe Stunde lang Mut gemacht, Ratschläge erteilt, da und dort ins Gewissen geredet, Schwierigkeiten benannt und ihnen aus dem Herzen gesprochen: „Die Einheit nimmt jeden Tag neue Gestalt an. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“

Drei Reden hat Willy Brandt am vergangenen Samstag in Thüringen gehalten, und er hat dabei - in sensibler Variation - immer dasselbe gesagt; das, was die Massen in Eisenach, Gotha und anderswo offenkundig hören wollen: Ihr seid nicht alleine, in Brandts Worten: „Ich nenne das füreinander einstehen.“

Willy Brandt, so schien es in diesen Augenblicken, ist das wandelnde Prinzip Hoffnung für viele DDR-Bürger, die der Verzweiflung näher sind als dem Glauben, daß alles doch noch „gut enden“ wird.

„Das Ganze ist im höchsten Grad unordentlich, konfus, unzusammenhängend, unlogisch und blamabel.“ Das war der Kommentar von Friedrich Engels zum Gothaer Programm der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“, die vom 22. bis 27.Mai 1875 im „Tivoli“ zu Gotha gegründet wurde. 73 Delegierte des von Ferdinand Lassalle im Jahr 1863 gegründeten „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“ (ADAV) und 56 Delegierte der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht 1869 in Eisenach aus der Taufe gehobenen „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ beschlossen damals ihre Vereinigung zu einer Partei (erst 1891 heißt sie „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“), die ausdrücklich „mit gesetzlichen Mitteln“ eine sozialistische Gesellschaft erreichen wollte.

115 Jahre später dauerte es nicht sechs Tage, sondern sechs Stunden, um an gleicher Stelle den thüringischen Landesverband der SPD zu konstituieren, die nun alles andere anstrebt als eine „sozialistische Gesellschaft“. Ein Programm hat man in der Eile noch nicht zusammenschreiben können, und so bestand die einzige historische Parallele in den notorischen Geschäftsordnungsdebatten, die schon im Mai 1875 zum eisernen sozialdemokratischen Traditionsbestand gehörten. Doch während der Parteitag in noch ungeübter Routine die obligatorischen Wahlen des Präsidiums, der Wahlkommission, der Antragskommission, am Ende dann des Landesvorstands, der Beisitzer und des Schatzmeisters abwickelte, konzentrierte sich nahezu alles Interesse auf Willy Brandt, das Symbol der sozialdemokratischen Geschichte, deren plötzliche Aktualität überall mit Händen zu greifen und - wichtiger - ein wahrer Segen für den SPD -Wahlkampf in der DDR ist.

Mit stehenden Ovationen und einem Strauß roter Nelken verabschieden sie den 75jährigen, der seinen dritten Frühling zu erleben scheint. Vor dem historischen Tagungsgebäude warten Gothaer Bürger auf „Willy“, erhaschen einen Blick, und schon rast die Wagenkolonne zur Wartburg. Freundliche Volkspolizisten winken auch das Verfolgerfahrzeug der taz über Kreuzungen und rote Ampeln.

Dort, wo Martin Luther im Jahre 1522 das Neue Testament übersetzte, drängen sich nun ost- und westdeutsche Touristen, die dem Medientroß Konkurrenz zu machen versuchen. „Lassen Sie mal kurz nen Amateur ran“, ruft ein Hobbyfotograf Brandt zu.

Pünktlich um 15 Uhr begrüßt der SPD-Ortsverband Eisenach Willy Brandt vor dem Rathaus. 20.000 Menschen jubeln, schwarz-rot-goldene Fahnen überall. Ein Transparent fordert „Volksentscheid über Deutschland einig Vaterland“. „Eigentlich brauchen wir den gar nicht mehr, wenn ich das richtig sehe“, sagt Brandt. „Aber es wird Zeit, daß die Worthülsen mit Inhalt gefüllt werden. Es müssen jetzt bald Nägel mit Köpfen gemacht werden.“ Der Ehrenvorsitzende drückt aufs Tempo, verlangt schnelle Schritte in Richtung Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft, betont den „Anspruch der Deutschen auf Einheit“ in bundesstaatlichen Strukturen, eingebettet in den Prozeß der europäischen Einigung.

Zugleich warnt er vor überstürzten Entwicklungen und „nationalistischen Rückfällen“ der Revolution, wofür er ebenso starken Beifall erhält wie für das Lob Michail Gorbatschows. Punktgenau trifft Brandt die Stimmungen und Gefühle, ohne sich ihnen auszuliefern. Staatsmännisch -väterlich artikuliert er ein „ungutes Gefühl“, wenn jetzt bei der „Jagd auf die Sündenböcke“ von eigener Schuld abgelenkt werde. Seine Denunzierung der SED wird genauso bejubelt wie das Plädoyer für eine „generöse Revolution“: „Ein gespaltenes Haus kann auf Dauer nicht bestehen.“ Und er hat einen neuen Grund zum Dableiben gefunden: „Jeder, der jetzt geht, nimmt auch seine Stimme mit in den Westen.“ Der Geschäftsführer der hessischen SPD, Lothar Klemm, rief auf der Abschlußkundgebung in Gotha ins Mikrofon: „Wir glauben, Gotha ist heute eine sozialdemokratische Stadt. Sie wird es auch in Zukunft sein.“

Wenn solche Anmaßungen der Preis für den Export der Hessen -SPD - Organisatoren, Buttons, Fahnen, Farbfernseher, Papier und Thermoskannen - nach Thüringen sein sollte, dürfte die Euphorie bald abklingen. Die Leute wollen nicht mehr in einer Stadt leben, die von einer Partei „erobert“ worden ist. Selbst der frischgewählte Vorsitzende des SPD -Landesverbands Thüringen, Wilfried Machaletti, erntet Pfiffe, wenn er - noch unbeholfen - Wahlkampf zu machen versucht.

Sie rufen „Willy, Willy!“ und sind begeistert, wenn er ihnen zuruft: „Wir stehen vor vielen Problemen. Aber ihr hier und wir drüben - zusammen schaffen wir das!“