Neues Forum: Keine Einheit für die Einheit

■ Die Landeskonferenz des Neuen Forums verabschiedete gegen Minderheitsfraktion ihre Programmerklärung

Zwei Tage lang bemühten sich die Delegierten des Neuen Forums, jedem bestehenden politischen Konflikt auszuweichen. Die „Basis“ prügelte verbal auf die „Führung“ ein, die „Provinz“ geißelte den Intellektualismus der „Berliner Freunde“. In der Deutschlandfrage sowie in der Frauen- und Wirtschaftspolitik lagen die Meinungen meilenweit auseinander - heraus kamen allgemeine Kompromißbeschlüsse, mit denen insbesondere die Initiatoren der größten Oppositionsgruppe der DDR nicht arbeiten wollen. Die Gründungskonferenz des Neuen Forums endete am Sonntag im Eklat - oder anders gesagt: mit dem Vollzug der Spaltung, die sich seit Wochen anbahnte.

„Weglaufen bringt es nie - wir machen hier Demokratie“ stand auf einem Transparent, das bei der schon legendären Novemberdemonstration auf dem Alexanderplatz mitgetragen wurde. Am Wochenende schmückte es die Aula der Akademie der Künste zum Gründungskongreß der Bewegung, die lange Zeit als Synonym für den Aufbruch der DDR-Gesellschaft in eine demokratische Ära gestanden hatte. Doch als Motto der Gründungsversammlung des Neuen Forums hatte die Parole spätestens am Sonntag mittag ausgedient: der linke Flügel um die Gründungsinitiatoren der Bewegung verließ demonstrativ den Konrad-Wolf-Saal der Akademie, wo sich die 281 Delegierten seit Samstag vormittag in einer von unzähligen Geschäftsordnungsanträgen zerhackten Debatte um die Formulierung des künftigen Programms gestritten hatten.

Das Ergebnis des programmatischen Hürdenlaufs resümierte Reinhard Schult: Die Versammlung habe ein „Ideologieprogramm ohne konkrete Inhalte“ verabschiedet. - Der seit Wochen schwelende Eklat um die zukünftige Richtung des Neuen Forums war da. „Unsere Standpunkte in wichtigen Fragen“ - hieß es in einem vorbereiteten Papier der Minderheitsfraktion „wurden an den Rand gedrängt, wie wir meinen, zum Teil durch wahlkampfstrategischen Pragmatismus und populistische Polemik. Betroffen mußten wir hinnehmen, daß Vertreter radikaldemokratischer Sichtweisen, die sich für eine eigenständige Entwicklung der DDR und die soziale Solidargemeinschaft engagieren, unfair und persönlich kränkend ... behandelt wurden.“

Schult machte den „totalen Riß“ aus zwischen den „Interessen der Menschen“ und den zukünftigen „Kleinunternehmern, die sich hier ihre Perspektiven absichern“. Eine deutliche Gleichgewichtsverlagerung habe sich im Neuen Forum vollzogen - weg von der „Mündigkeit der Bürger und der Verteidigung sozialer Rechte“, hin zu „Wiedervereinigung und ungehindertem Kapitalfluß“. Die Idee einer solidarisch-emanzipierten Gesellschaft, mit der das Forum angetreten sei, werde mit den Beschlüssen des Gründungskongresses von „Kapitalismusvorstellungen des 19. Jahrhunderts“ abgelöst.

Mit drastischen Worten beschrieb Schult die Blockade der beiden Flügel und machte keinen Hehl daraus, daß er die Spaltung des Forums den Kompromißlösungen der Programmdebatte vorziehe. Schon seit November sei klare inhaltliche Profilierung der Organisation überfällig. Die aber mache eine Spaltung unumgänglich.

Im Eklat vom Sonntag wurde das Dilemma der Initiativgruppe des Forums überdeutlich. Mit ihrem Aufruf im September letzten Jahres schufen sie binnen weniger Wochen eine Massenbewegung, deren Forderungen sich jedoch seit der Grenzöffnung rapide von den Intentionen der Gründergeneration entfernen. Mit Bärbel Bohleys Äußerungen zur Maueröffnung - Volk und Regierung seien wohl gleichermaßen verrückt geworden - war der seitdem immer wieder notdürftig gekittete Riß zwischen den Sprechern der Bewegung und den Mitgliedern schon vor Monaten deutlich geworden.

In einem schmerzhaften, desillusionierenden Prozeß vollzieht das Neue Forum seitdem unter dem Druck der gewandelten Stimmungslage den Abschied von der ursprünglichen Idee einer Gesellschaft, die sich nicht nur von den vergangenen 40 Jahren, sondern - in ihrer neuen demokratischen Qualität - auch vom Modell Bundesrepublik abhebt. Doch der Spielraum einer DDR-spezifischen Alternative schwindet. Die Mehrheit der Mitglieder, das wurde am Sonntag deutlich, setzt auf die staatliche Einheit. Diese Perspektive und nicht der eigene Beitrag neuer demokratischer Impulse weckte die Emotionen der Versammlung.

Doch das Dilemma der Gründer besteht nicht nur in der Konfrontation mit den unliebsamen programmatischen Forderungen. Er scheint mittlerweile prinzipieller Natur. Die Basisdemokratie selbst, die von den Gründern als eigentlicher Beitrag des Forums zu einer neuen politischen Kultur immer wieder beschworen wird, kehrt sich jetzt gegen die Initiatoren. „Die Basis“ schwebte als drohender Zeigefinger immer dann über den zweitägigen Beratungen, wenn ein Antrag, eine Formulierung der Stimmungslage im Land zu widersprechen schien: „Mit diesem Satz im Programm kann ich mich nicht nach Hause trauen“, war eine häufig gebrauchte Formulierung, um den programmatischen Dissens stromlinienförmig zu entscheiden.

Verschärfend kam hinzu, daß die inhaltlichen Unterschiede in keinem Punkt wirklich ausgetragen wurden. Der immer wieder angemahnte Zeitdruck war nur die vordergründige Ursache dafür, daß auch die wesentlichen Programmalternativen kaum andiskutiert wurden. Immer wenn eine kontroverse Diskussion absehbar war, fand sich der passende Geschäftsordnungsantrag, der die Debatte in einen restriktiven Zeitrahmen preßte. Selbst als Schult und Köppe am Sonntag nachmittag die „Existenzfrage“ des Neuen Forums stellten, wurde die Debatte auf 15 Minuten begrenzt.

Die Behandlung der „Frauenfrage“ - eine der Punkte die dann zum Eklat führten - war nach der Leipziger Delegiertenkonferenz von Anfang Januar auch diesmal wieder beispielhaft für die Unwilligkeit, sich mit kontroversen Positionen auseinanderzusetzen.

Am Samstag wurde der ganze Programmpunkt „Frau und Gesellschaft“ ohne Aussprache zur Überarbeitung in die Programmkommission zurückverwiesen. Die Wiedervorlage am Sonntag war nur einer massiven Intervention von Jens Reich zu verdanken, der der Versammlung „Feigheit vor der Auseinandersetzung“ vorwarf. „Wir können keinen Gründungskongreß machen und alles in irgendwelche Kommissionen verweisen.“ Doch wer sich am Sonntag auf die Diskussion um den eigentlichen Knackpunkt, die Quotierung, gefreut hatte, wurde enttäuscht: Die Auseinandersetzung wurde per Geschäftsordnungsantrag verhindert. Ohne Rede und Gegenrede wurde dann die Quotierung gekippt und durch eine unverbindliche Formulierung zur angestrebten „Gleichstellung der Frau“ ersetzt.

Der zweite Programmkonflikt um die künftige Orientierung der Wirtschaftspolitik brachte nach emotionalisiertem Schlagabtausch die Verschiebung in Richtung westliches Wirtschaftsmodell. Das Vetorecht der Betriebsräte gegenüber den Unternehmensleitungen war nicht mehrheitsfähig. Mit dem Hinweis auf die schwindende Mitgliederzahl des Forums wollte einer die freie Marktwirtschaft zur Zielperspektive der Wirtschaftsreform erheben. „Uns verlassen ständig Leute. Es muß jetzt schnell gehen“, begründete ein Delegierter. Das „Recht auf Arbeit“ entging nur knapp der Streichung. Der Widerspruch von Arbeitsplatzgarantie in einer Marktwirtschaft wurde ins Programm übernommen. - Ein Beispiel für die Art der Kompromisse, die dann am Sonntag zur faktischen Spaltung führen sollten.

Emotionaler Höhepunkt der Programmdebatte war auch beim Neuen Forum die „nationale Frage“. Daß die staatliche Einheit unvermeidlich ist, war in allen Programmentwürfen quasi beschlossene Sache. Die Kontroverse entzündete sich an der Frage eines „eigenen Beitrags“ zur Demokratisierung eines künftigen Einheitsstaates. Auch hier legte die Mehrheit das Gewicht auf die Einheitsperspektive. Der Versuch der Minderheit, über eine Diskussion der sozialen und internationalen Probleme des Vereinigungsprozesses zu einer „realistischen“ Programmfassung zu kommen, scheiterte ebenfalls an der Stimmungslage.

Wie tief der Dissens zwischen Basis und Gründern mittlerweile geht, zeigten die Zurufe, mit denen Schult als Vertreter der „grün-alternativen pressure group“ charakterisiert wurde. Dennoch wäre die Spaltung vermeidbar gewesen. Doch Schults Weigerung, die beschlossenen Positionen am runden Tisch zu vertreten, machten die Abspaltung zwingend. Gerd Bastians Hoffnung, die DDR -Revolution werde, anders als ihre Vorläufer, ihre Väter nicht fressen, scheint sich nicht zu erfüllen.

Matthias Geis