BERLIN - STADT DER GESPENSTER

■ Martin Kettles Artikel erschien zuerst am 7. Dezember im englischen 'Guardian‘

Berlin ist die Stadt, mit der das alte Europa im Jahre 1945 unterging - zerstört in Bombenangriffen, wie sie keine englische Stadt je durchgemacht hat. Aber Berlin ist auch die Stadt, in der das neue Europa der alten Ideale im Jahre 1989 wiedergeboren wurde. Wenn man Berlin verstehen kann, dann ist es vielleicht auch möglich, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie das Europa der Zukunft aussehen könnte und was es heute bedeutet, Europäer zu sein.

Aber wie kann man Berlin verstehen? Ebenso wie Europa selbst ist die Stadt belastet mit den Gespenstern der Vergangenheit - eine Art historisches Spiegelkabinett. Der Schlüssel für die Zukunft der Stadt liegt - ebenso wie der Schlüssel für die Zukunft Europas - in ihrer unmittelbaren Vergangenheit.

Vor dem 9. November konnten die Berlinbesucher zum verwaisten Potsdamer Platz gehen, wo heute keine Straßenbahnen mehr fahren und die alten Schienen nirgendwo mehr hinführen, und auf die Aussichtsplattform neben den Touristenkiosken auf der Westseite klettern, von wo aus man über den von den Grenzsoldaten bewachten Todesstreifen hinweg auf die leerstehenden, zugemauerten Häuser einen halben Kilometer weiter östlich sehen konnte.

Ein Stückchen weiter links in diesem Niemandsland vor der Kulisse dieser trostlosen Häuser konnte man einen kleinen grasbewachsenen Hügel erkennen. Es war ein echter Grabhügel

-alles, was von Hitlers Führerbunker, dem Schauplatz der Götterdämmerung, übriggeblieben ist. Dieser Hügel war besonders für die Kaninchen ein beliebter Tummelplatz einer der wenigen Plätze in Europa, wo sie nicht damit rechnen mußten, daß auf sie geschossen wird.

Dieser Hügel über dem Bunker ist auch heute noch da. Allerdings ist er jetzt nicht mehr so leicht zu sehen, weil die Besucherplattform abgebaut und der Blick durch die neue, berühmt gewordene Öffnung in der Berliner Mauer meistens durch den endlosen Strom von Ostberlinern versperrt wird, die zu Fuß und mit ihren Trabants in den Westen kommen. Man kann sich leicht ausmalen, daß auf dem Hügel vielleicht schon bald ein neuer Skateboard-Park entstehen könnte.

Wenn die Ostberliner in den Westteil der Stadt kommen, sehen sie vieles, was ihnen nicht vertraut ist. An allen Ecken und Enden werden sie mit dem Vorgeschmack auf ein Europa konfrontiert, das jetzt auf sie zukommt, ob sie wollen oder nicht.

Englische Soldaten bieten ihnen einen Becher Tee aus einem dampfenden Kessel an. Kleine rote Handzettel mit der Aufschrift „Herzlich willkommen“ werden ihnen in die kalten Hände gedrückt - darauf der zutiefst entbehrliche Hinweis, daß Besuchern aus dem Osten in den Filialen von Burger King in Westberlin auf alle Hamburger ein Preisnachlaß gewährt wird.

An der Rückseite eines riesigen Lastwagens werden kostenlose Proben von Bahlsen-Keksen verteilt. Neben einem Doppeldeckerbus von Mercedes-Benz wartet eine Menschenschlage geduldig auf weitere kostenlose Werbegeschenke. Die Trabbis parken derweil dreist und ungestraft in der zweiten Spur. Am Rande der Menge ist die unvermeidliche Gruppe japanischer Touristen damit beschäftigt, die Szene auf Video aufzunehmen - eine erneute Bestätigung für Andy Warhols Auffassung, daß für die Menschen im zwanzigsten Jahrhundert etwas nur dann wirklich ist, wenn man es im Fernsehen gesehen hat.

Die vergangenen Tage waren durch eine beispiellose Hektik im Zentrum West-Berlins gekennzeichnet. Es ist schwer zu sagen, welche der vielen Identitäten West-Berlins die „Ossis“ am meisten anzieht. Außenposten der Freiheit? Schaufenster des Kapitalismus? Die bürgerliche Hälfte der ehemaligen preußischen Hauptstadt? Oder vielleicht das wilde, provozierende Nachtleben? In den Augen der DDR-Bürger ist Westberlin all das und einiges mehr. Wir sind Zeugen eines Liebesaktes nach einer langen, leidenschaftlichen Zeit der Verführung. Wie aber wird es nach den Flitterwochen aussehen?

Auf den hell erleuchteten Straßen Berlins drängen sich fröhliche, glückliche Menschen. Aber an den Rändern lauern immer noch die alten Gespenster. Hier auf dem Tauentzien, wo in früheren Tagen einmal Isherwood gewohnt hat und wo heute die Ostberliner nach Obst und billigen Stereoanlagen anstehen, schläft ein türkischer Bettler in einem Hauseingang, um den Hals ein Pappschild mit der Aufschrift „Hunger“.

Am Wittenbergplatz strömen die Menschen zu Weihnachtseinkäufen in das Kaufhaus des Westens. Es ist das gleiche KaDeWe, in dem vor sechzig Jahren im eleganten Restaurant in der obersten Etage eine ungarische Kapelle zum Tanz aufspielte und beliebte Hits präsentierte. Ihre Spezialität waren Stücke wie In Sanssouci, die die alten Berliner an die sonntagnachmittäglichen Ausflüge der zwanziger Jahre zur Sommerresidenz Friedrichs des Großen in Potsdam erinnerten - Ausflüge, wie sie die Westberliner im letzten halben Jahrhundert nicht machen konnten.

Das KaDeWe ist ein riesiges Kaufhaus. Im Europa unserer Tage, wo der Konsumrausch zur neuen Religion geworden ist, haben die Kaufhäuser die Funktion wichtiger Tempel übernommen, und auf irgendeine Weise sehen sie alle mehr oder weniger gleich aus. Es ist gleich, ob man das Printemps in Paris, Rinascente in Mailand, de Bijenkorf in Amsterdam oder das KaDeWe betritt - man könnte ebenso gut in einem der anderen Kaufhäuser sein. Und was noch wichtiger ist, auch die angebotenen Waren sind überall die gleichen.

Aber auch wenn das KaDeWe sich im Innern durchaus nicht von anderen Kaufhäusern unterscheidet, so hat es von außen gesehen doch etwas Besonderes. Neben dem Eingang zur U -Bahnstation Wittenbergplatz steht etwas, was wie eine übergroße öffentliche Hinweistafel aussieht, und in gewissem Sinne trifft das auch zu - in Wirklichkeit jedoch handelt es sich um ein Mahnmal. Die Inschrift lautet ganz einfach: „Orte des Schreckens, die wir nie vergessen dürfen“, und dann folgen die Namen von zehn Konzentrationslagern von Auschwitz bis Bergen-Belsen.

Es ist für jedermann ersichtlich, daß die Öffnung der Berliner Mauer nicht nur ein reales Ereignis ist, sondern auch symbolische Bedeutung hat. Bereits einen Monat danach wird der 9. November 1989 als eines der historischen Schlüsseldaten in der deutschen und europäischen Geschichte gefeiert. Straßen werden nach diesem Tag benannt. Aber es ist gefährlich, wollte man die Ereignisse so vereinfachen. Es wird auf beiden Seiten noch viel geschehen im Zusammenhang mit der neuerlichen Öffnung der Verbindungswege zwischen dem östlichen und westlichen Teil Europas. Ohne das Verständnis für die Geschichte wäre George Bushs Wunsch, die Olympischen Spiele im Jahre 2004 in Berlin stattfinden zu lassen, eine durchaus unproblematische und großartige Idee. Da wir der Geschichte jedoch nicht entrinnen können, erscheint dieser Wunsch gleichzeitig auch zumindest naiv, wenn nicht sogar unheilvoll. Gerade weil Berlin ein so genauer Spiegel dieser so wichtigen Periode der europäischen Geschichte ist, scheint die Stadt immer wieder so vieles von der dunklen, unbewußten Seite der europäischen Identität zu verkörpern.

Man braucht in Berlin heute nur in den Bezirk Kreuzberg zu fahren, um ein sehr viel differenzierteres Bild vom neuen Berlin und vom neuen Europa zu gewinnen. Hier an der Oberbaumbrücke über die eisige Spree befindet sich einer der charakteristischsten und bekanntesten Schauplätze des Kalten Krieges in Berlin. Auf der anderen Seite des Flusses, im Ostteil der Stadt, ist es nicht weit bis zu der Stelle, an der früher das Gestapo-Gefängnis stand, wo der junge Erich Honecker eingesperrt worden war, weil er mitgeholfen hatte, den kommunistischen Widerstand gegen die Nazis zu organisieren. Heute sitzt Honecker erneut hinter Gittern, und die Tradition, deren Anführer und Leitbild er war, hat nach landläufiger Auffassung nun ihr Ende gefunden.

Auf der westlichen Seite war dieser Bereich immer durch eine militante Stimmung gekennzeichnet, die jetzt vermutlich ebenfalls aus der Mode kommen dürfte. Vor einem Jahrhundert gab es hier in diesem Arbeiterbezirk die ersten Streiks der Weber und Maurer, die erfolgreich für die Einführung des Zehnstundentages kämpften. Ein Stückchen weiter die Straße hinunter am Kottbusser Tor gingen die Arbeiter im Jahre 1920 auf die Straße, um die Weimarer Republik gegen den Kapp -Putsch zu verteidigen.

Heute hängen hier in der Hochburg der Grünen in der Köpenicker Straße Spruchbänder an den Häusern, auf denen gefordert wird: „Geld für alle Ausländer. Weder Kohl noch Krenz. Nein zur Wiedervereinigung. Kämpft gemeinsam gegen Kapitalismus und Bürokraten.“ Aber die Straße davor ist voll von Ostberliner Ausflüglern, die schwer beladen mit Coca -Cola-Dosen und Cornflakes in den Ostteil der Stadt zurückkehren, vorbei an den Grenzbeamten, die sich alle Mühe geben, ein freundliches Gesicht zu zeigen.

Hier sind wir im türkischen Teil Berlins, wo die „Gastarbeiter“, deren Lebens- und Arbeitsverhältnisse dank der entlarvenden Reportagen von Günter Wallraff auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden, in unzureichenden Wohnungen hausen und unterdurchschnittlich niedrige Löhne erhalten, umgeben von unverhohlener Feindseligkeit von seiten der deutschen Bevölkerung. Für einige von ihnen, die an den Straßenecken eifrig Sechserpackungen Bier verkaufen, bietet das neue Berlin sehr viele Möglichkeiten. Aber für eine große Zahl dieser Bewohner eines neuen Europa ist die Öffnung der Berliner Mauer nur ein weiterer Alptraum, weil über die offenen Grenzen nun eine Welle von hochqualifizierten, mit niedrigen Löhnen zufriedenen Arbeitskäften nach Westdeutschland strömt, die sowohl der weißen Rasse angehören als auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

Was für Deutschland der große Traum ist, könnte für die in Deutschland lebenden Menschen aus der Dritten Welt zum großen Alptraum werden. Dabei geht es keineswegs nur um die Türken in Westberlin oder auch die Türken in der Bundesrepublik. Die Türken in Kreuzberg sind austauschbar, sie stehen auch für die Maghrebinier in Marseille, die Pakistanis in Bradford oder die Somalis in Rom. Alle großen Staaten Europas stehen vor dem gleichen Problem. Für diese Menschen ist die neue europäische Identität nicht nur eine Hoffnung, sondern vor allem auch eine Bedrohung.

In Berlin wird man immer wieder mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. An den Wänden der U-Bahnstationen hängen heute Plakate der rot -grünen Koalition, die die Stadt unter Führung Walter Mompers jetzt regiert. Auf diesen Plakaten sind 25 Gesichter von Menschen unterschiedlichen Alters und der verschiedensten Rassen abgebildet. Darunter steht „BerlinerInnen (das ist die antisexistische Version der alten deutschen Bezeichnung für Berliner) aller Länder, vertragt Euch“. Das könnte als eine einfache Tatsache verstanden werden, aber auch als eine Hoffnung oder sogar eine Aufforderung.

Es gibt nur wenige Städte in Europa, die sich auf kulturellem Gebiet mit Berlin messen können. Das ist keineswegs nur ein liberaler Euphemismus für die ethnische Vielfalt in dieser Stadt.

Die Gebäude Berlins - soweit sie überlebt haben - erzählen die Geschichte der Pionierzeit des modernen Designs. Die Tradition des Berliner Kabaretts und der populären Musik sind ohnegleichen. Die Berliner Theater sind heute bereits zur Legende geworden. Berlin hat ein einzigartiges Sinfonieorchester, um das offenbar die gesamte japanische Nation die Stadt beneidet. Welche Stadt könnte besser alle guten Seiten der neuen europäischen Identität verkörpern?

Vor drei Jahren veranstaltete das in Colorado ansässige Aspen-Institut in Berlin eine Konferenz, auf der die Entwicklung multi-ethnischer Gesellschaften in Westeuropa diskutiert werden sollte. Insgesamt gesehen war es ein durchaus konstruktiver Versuch, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß zwei oder drei Prozent der Bevölkerung der meisten großen europäischen Länder heute aus der Dritten Welt stammen - eine Tatsache, die von denen, die so gerne von der „europäischen Identität“ schwärmen, nur allzu gerne vergessen wird. Die Teilnehmer der Konferenz wohnten im Hotel Inter-Continental, von dem aus man jene Stelle des Landwehrkanals überblicken kann, an der die Freikorps im Jahre 1919 den Leichnam von Rosa Luxemburg ins Wasser warfen. Die Konferenz selbst fand am Wannsee statt, dem Ort, an dem die Nazis zusammenkamen, um die Endlösung der Judenfrage zu beschließen.

Übersetzung: Hans Harbort