Maß aller Dinge - das Mittelmaß

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(Die 80er - Das Jahrzehnt im Rückblick, So., 28.1., ZDF, 20.05 Uhr) Was ist komischer als ein Kanzler, der die Politik zur Realsatire macht? Einer, der über sich selbst Witze erzählt. Kohl kam, sprach und scherzte, verglich sich mit einem Menschenaffen, der von einer Berliner Rentnerin erkannt und angegiftet wird: „Was, da dürfen Sie noch frei herumlaufen?“ Eine selbstkritische Pointe, schon tobt die Frankfurter Festhalle, und unser Kassengestell-Kanzler läßt sich auslachen. Wer es nicht gesehen hat, wird es nicht glauben, aber das Kohl-Debüt in einer Unterhaltungsshow mit Thomas Gottschalk und Günther Jauch war das erste Knallbonbon der neunziger Jahre. Kaum ist das Spaßjahrzehnt vorbei, hat auch der helle Helmut gemerkt, daß ein witzelnder Politiker immer noch besser ankommt als eine Witzblattfigur von Kanzler.

Überhaupt, der politische Teil dieser Mammut-Zeremonie, die noch einmal die völlig toten Leichen der Achtziger aus dem Keller holte, war irre lustig und bisweilen sogar richtig informativ. Wo wurde es jemals so deutlich, daß Otto Schily nur noch dazu in der Lage ist, wie ein zänkisches Weib über den armen Turnschuhträger Joschka Fischer herzufallen und hämisch darauf hinzuweisen, daß dieser es nach zehn Jahren endlich geschafft habe, eine Krawatte zu binden? In welchem deutschen Fernseh-Polit-Magazin wird so unschuldig-doof gefragt, wie Jauch-Gottschalk es bei Genschman taten? Mit dem Erfolg, daß ein Außenminister zu unverquasten Aussagen kam. Ernst-Dieter Lueg, da müssen Sie wohl vor Neid erblassen und noch einen zu sich nehmen! Denn das ist der Journalismus der Neunziger: Zwischen Oma Turner und Knödel Grönemeyer öffnet Kohl sein Poesiealbum. Das garantiert Einschaltquoten und Lacher, vielleicht sogar ein paar Wählerstimmen. Kohl hätte schon vor der Wahl an der Saar deutsche Fernsehunterhaltung bieten sollen.

Es ist eine Tragödie: Das soll nun das Spaßjahrzehnt gewesen sein, aber Quasselstrippe Gottschalk und Musterknabe Jauch zeigen uns dreieinhalb quälende Stunden lang, daß wir in einer uniformistischen, mittelmäßig-spießigen Dekade gelebt haben, für die wir alle irgendwie verantwortlich sind, denn wer hat keine Platte vom näselnden Halbglatzkopf Phil Collins im Schrank, wer hat sich gegen den verbohrten Teutonenkopf von Stephan Remmler oder die Pardei-Pirouetten von Kathi Witt gewehrt? Nichts ist einfacher, als sich über diesen lauwarmen Brei von Mittelmaß-Mimikry aufzuregen, aber der Grundgeist dieser Sendung muß ja wohl auch mit uns zu tun haben, denn woher kommen sonst die Lemminge, die seit Jahren im Herdentrieb hinter all den herrlichen oberflächlichen Auswüchsen der Postmoderne hergetrottet sind? Eigentlich haben auch wir sie verdient, die Rolle, die Günther Jauch wieder einmal neben dem quatschenden Freund spielen mußte: ab und zu den dummen August machen und dabei auch noch in die Kamera lachen.

Christof Boy