„Godot ist angekommen“

■ Die sanfte tschechoslowakische Revolution an der Schwelle des demokratischen Alltages - Beobachtungen aus der Provinz

Alena Wagnerova

Das erste Bild von Vaclav Havel hatten wir gleich am Grenzübergang Bozvadov gesehen, geklebt an eine der Kabinen, in denen die Pässe abgestempelt werden. Die ersten drei Stunden seiner Präsidentschaft waren damals gerade abgelaufen. Den Grenzsoldaten machte die neue Liberalität, um die sie sichtlich bemüht waren, doch zu schaffen. Überall auf dem Grenzübergang herrschte ein friedliches Chaos. Die noch ungeübte Freiheit forderte ihren Tribut: in längeren Wartezeiten.

Mit der Fahne bekennt man sich

zur Revolution

Die Fahrt von Rozvadov nach Pilsen bot die erste Gelegenheit, Eindrücke über die Stimmung im Lande zu sammeln: Man brauchte nur auf die gehißten Flaggen oder Fähnchen in den Fenstern zu achten. Dort, wo auch die Privathäuser mit Fahnen geschmückt waren, hatte sich die „sanfte Revolution anständiger Leute“ bereits durchgesetzt und die Menschen hatten keine Angst mehr, Farbe zu bekennen. In einigen Ortschaften waren aber nur Gasthäuser, Polikliniken und einzelne Betriebe beflaggt. Die Rathäuser und Gebäude der Orts- und Kreiskomitees der Kommunistischen Partei wirkten wie ausgestorben. Wer eine Lichterkette der Begeisterung von der Grenze bis nach Prag erwartet hatte, konnte enttäuscht sein.

Die Zurückhaltung der Menschen auf dem Lande muß man aber verstehen. Gerade hier, wo jeder jeden kennt, und wo es kein Entkommen in die Anonymität wie in der Großstadt gibt, herrschten die Orts- und Kreisfunktionäre der KPTsch oft nach Art der früheren Feudalherren. Ohne ihre Zustimmung gab es keinen Besuch des Gymnasiums für die Kinder, keine Baugenehmigung, keinen besseren Arbeitsplatz. Die guten Kontakte zur Obrigkeit im Ort öffneten wiederum Zugang zu begehrten Ressourcen. Das gesellschaftliche Eigentum wurde in Wirklichkeit zum Besitz der Familienclans, die sich durch die politische Macht den Zugriff darauf sicherten. Es war ein eingespieltes System, in dem jeder seine Möglichkeiten kannte, die Günstlinge genauso wie die Parias. Die Revolution verunsichert nun beide Seiten. Fragen sich die einen, ob man den neuen Verhältnissen wirklich Glauben schenken kann und ob der Weg zurück - vor den November 1989

-definitiv versperrt ist, so wissen wiederum die anderen, was sie verlieren; was sie gewinnen können, ist für sie noch immer ungewiß. In diesem System von Filz und Beziehungen waren die Gastwirte und die Angestellten des Gesundheitswesens noch die Unabhängigsten.

Die 90 Kilometer zwischen Rozvadov und Pilsen reichten, um zu begreifen, wie wichtig die systematisch betriebene Agitationsarbeit der Studenten auf dem Lande gewesen war. Die Tonnen von Flugblättern, Zeitungen und Informationsmaterial, die hier verbreitet worden waren, sind die Saat, die jetzt aufgehen muß. Die Stimmung in Pilsen entsprach schon eher den Erwartungen des westlichen Touristen. Ein Volksfest zur Wahl des neuen Präsidenten war hier gerade zu Ende gegangen. „Hupt unserem lieben Präsidenten Havel“ - eine Gruppe junger Menschen hatte dieses Spruchband wohl selbst kreiert.

„Godot ist angekommen“

verkündete eines der vielen Plakate auf dem Wenzelsplatz. Als wir in Prag angekommen waren, hatte auf dem Altstädter Ring soeben der „Ball der nationalen Versöhnung“ begonnen.

Schon beim ersten Spaziergang durch die Stadt fiel auf, wie grundlegend sich die Atmosphäre geändert hatte. Die Gesichter der Menschen waren gelöst, man möchte fast sagen geläutert, der Gang unbeschwert. Die stumpfe Resignation, die noch vor einem halben Jahr das Straßenbild geprägt hatte, war wie weggeblasen. Es war das alte mitteleuropäische Gesicht - sensibel, wach, neugierig, offen, das seine Wiedergeburt feierte. Auch der Umgang der Menschen miteinander war anders geworden. Die Menschen waren jetzt freundlich, hilfsbereit, geduldig, niemand schimpfte. Die Stimmung ist anders als 1968 in der Zeit des „Prager Frühlings“. Damals war es eine „Reformstimmung“, euphorisch aber auch hysterisch, diesmal ist es eine Befreiung, eine tiefgreifende, gleichzeitig aber auch nüchterne Freude. Das Volk, das an diesem Abend durch die Straßen flanierte, hat eine fremde Herrschaft abgeschüttelt. Daß dieser „fremder Herrscher“ die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei war, stellt eine bittere Pointe der zurückliegenden vierzig Jahre dar.

Als wir später einmal über den Altstädter Ring gingen - das Fest war schon fast zu Ende -, waren die leeren Sektflaschen säuberlich um die überfüllten Mülltonnen geordnet, und auf dem Boden lagen weder Glasscherben noch andere Abfälle.

Vom Brünner Forum zum

Bürgerforum

Das Bürgerforum in Brünn „amtiert“ in dem hinteren Trakt des alten spätgotischen Rathauses. Die niedrigen gewölbten Räume - die Brünner „Ratsherren“ haben hier ihre privaten Feiern abgehalten - erinnern ein wenig an die Katakomben der ersten Christen. In einem kleinen Vorraum, wo Plakate und allerlei Aufrufe die Wände schmücken, und wo auf den Tischen verschiedene Informationen zum Mitnehmen ausgelegt sind, darunter auch die Programmerklärungen der sich neu konstituierenden Parteien, werden die Besucher vom Informationsdienst des Bürgerforums empfangen und je nach ihrem Anliegen in die inneren Räume des Zentrums weitergeleitet. Durch den zentralen Raum, an einem langen Sitzungstisch vorbei, gelangt man in die Küche und in das Pressezentrum mit allen möglichen Druck- und Vervielfältigungsmaschinen und einem Personal Computer, einem Geschenk aus der Bundesrepublik. Bei dem fehlenden Service haben sich übrigens die alten Vervielfältigungsmaschinen als betriebstüchtiger erwiesen als die modernen Fotokopiergeräte.

Die Novemberrevolution war gerade noch rechtzeitig gekommen, um in Brünn die Durchführung zweier brutaler Bauprojekte zu verhindern: Den Bau eines Autobahnzubringers durch das Svratka-Tal in Pisarky, einer traditionsreichen Naherholungszone der Brünner, und den Bau einer Schnellstraßenbahn, die den grünen Gürtel innerhalb der Stadt weitgehend zerstört hätte. Gegen beide Vorhaben hatten die Brünner Bürger schon seit Monaten protestiert. Auch diese Proteste gehörten schon in das Vorfeld der Novemberereignisse in der Tschechoslowakei. Sie waren symptomatisch für das Erwachen des neuen Bürgersinns, ohne den es auch die gewaltige Reaktion auf den brutalen Einsatz der Polizei am 17.November nicht gegeben hätte.

Wer davon überrascht war, wie schnell die Opposition nach den Ereignissen vom 17.November die Organisationsform des Bürgerforums fand, und sich die Frage stellte, wie es nur möglich war, könnte in Brünn die Antwort darauf finden. Das „Brünner Forum“, gegründet im Januar 1989, kann als die Urform und Vorgängerin aller späteren Bürgerforen im Lande gelten. Die Initiative zur Gründung des Brünner Forums geht auf Jaroslav Sabata zurück, den spiritus agens der Brünner Dissidentenszene, inzwischen Abgeordneter der Föderalversammlung. Der hafterfahrene Politologe gehört zu den ganz wenigen ehemaligen Reformkommunisten des „Prager Frühlings“, die auch dem „Prager Herbst“ noch etwas zu sagen hatten. Es war vor allem sein Anliegen, eine gemeinsame Plattform aller unabhängiger Initiativen und Gruppierungen zu schaffen, und doch gleichzeitig deren Eigenständigkeit zu bewahren. Etwa alle sechs Wochen gab es in Brünn seit dem Frühjahr 1989 gemeinsame Veranstaltungen und Diskussionen. „Daß wir mit dem Brünner Forum eigentlich die ersten waren, weiß heute aber niemand mehr“, sagen die Brünner mit einem Hauch Frustration in der Stimme.

Wird es einen mährischen

Landtag geben?

Es ist ein altes Brünner Trauma, die zweite Stadt in der Republik zu sein. Nach der Föderalisierung von 1968 fiel die frühere Landeshauptstadt sogar noch hinter die slowakische Metropole Bratislava auf den dritten Platz zurück. Daß Brünn mit seiner traditionsreichen Textil- und Maschinenindustrie inzwischen Karriere als Messestadt macht, ist doch nur ein schwacher Trost für die verlorene Würde der Landeshauptstadt, zumal man diese Zurücksetzung auch im Budget spürt. Die Abschaffung der alten Landesordnung im Jahre 1948 hat man in diesem Teil des Landes nie richtig akzeptiert. Kein Wunder also, daß gleich in den ersten Tagen der Revolution Stimmen laut wurden, die nach der Aufwertung der historischen Stellung von Mähren und Schlesien riefen. Die Vorschläge reichen inzwischen von einem eigenen mährischen Landtag oder wenigstens der Verstärkung der Präsenz Mährens im Tschechischen Nationalrat, bis hin zur Trialisierung der tschechoslowakischen Föderation. „Und ich würde vorschlagen, daß wir zwischen dem tschechischen und dem slowakischen Teil der Nationalhymne eine längere Pause für Mähren einführen“, kommentiert ein Mitglied des Bürgerforums die Bemühungen seiner Landsleute ironisch.

Die „Demokraten der ersten Stunde“, die sich regelmäßig im Brünner Bürgerforum treffen, kennen sich fast alle noch aus der Zeit vor dem 17.November. Viele sind durch freundschaftliche Beziehungen verbunden, die die Bewährungsprobe jener Jahre in der Opposition überstanden haben. So ist es freilich nicht nur in Brünn. Die ganze Novemberrevolution wurde auf den Netzwerken der zwischenmenschlichen Beziehungen gegründet, die plötzlich zur politischen Kraft wurden. Erst jetzt aber gelangen sie an die Oberfläche, werden sichtbar. „Wer war das, die unabhängigen Studentengruppen?“, fragte ich eine junge Soziologin. „Eigentlich Leute, die sich kannten.“ Eine symptomatische Antwort für den Charakter der tschechoslowakischen Revolution. So bildete sich auch auf vielen Arbeitsplätzen stillschweigend ein Konsens, der nach dem 17.November eine neue Qualität im Handeln fand. Ursprünglich ging es gar nicht um die Politik, sondern um die Moral. Dieser Ethos der Revolution drückt sich nicht zuletzt auch in der Betonung der Gewaltlosigkeit, in der Behutsamkeit aus, mit der man mit den anderen umgeht. Gewalt, Unterdrückung, Gängelung, davon gab es schon genug. Wie es scheint, haben in dieser Atmosphäre auch die Schrei und Wendehälse, die manchmal auch nach Abrechnung rufen, nur kurzfristig eine Chance. Sowie die Menschen - auch an der Basis und auch auf dem Lande - langsam die Köpfe heben und selbstbewußter werden, beginnen sie schon, sich gegen solche Leute zu wehren. „Einmal, zweimal lassen sie sich es vielleicht gefallen, aber beim dritten Mal werden die schon klar und deutlich zurecht gewiesen“, beschreibt eine junge Frau aus der Masaryk-Gesellschaft diesen Prozeß.

Was wird aus den Bürgerforen?

In der heutigen Tschechoslowakei fehlt es nicht an dem Willen zur Demokratie. Woran es mangelt, ist die Kenntnis der demokratischen Praxis, dem demokratischen Know-how sozusagen. Wie gründe ich eine Partei, einen Verein? Wie leite ich eine Versammlung? Was heißt es, ich bin ein Bürger? So neigen manchmal auch die Bürgerforen in den kleineren südmährischen Ortschaften, nach dem gewohnten zentralistischen Prinzip, das Bürgerforum in Brünn automatisch für ein übergeordnetes Organ zu halten und Direktiven von dort zu erwarten.

In dieser Situation ist es nur verständlich, daß auch die Bürgerforen sich ganz und gar noch nicht über ihre zukünftigen Aufgaben im klaren sind. Sollen sie sich in einzelne politische Parteien auflösen oder die gemeinsame Plattform erhalten, eher als politische Klubs oder Stammtische wirken, die vor Ort die Kultur des demokratischen Umgangs mit den öffentlichen Anliegen mit einüben und pflegen? Sollen sie selbst Kandidaten aufstellen oder die Kandidaten der politischen Parteien unterstützen? Soll die zukünftige tschechoslowakische Demokratie eine rein parlamentarische Demokratie der Parteien sein oder eher eine partizipatorische, in der auch andere gesellschaftliche Gruppen an der politischen Willensbildung beteiligt sind? Vor der Lösung solcher Fragen steht auch die älteste politische Sammelbewegung im Lande, die „Bewegung für bürgerliche Freiheit“ (H.O.S.), die schon im Herbst 1988 das erste politische Programm Demokratie für alle vorgelegt hatte.

Nach der Wahl Vaclav Havels zum Präsidenten hat der demokratische Alltag in der Tschechoslowakei zwar schon begonnen. Aber die dramatischen November- und Dezemberwochen sind immer noch zu gegenwärtig, um auf sie nicht in jedem Gespräch wieder zurückzukommen. Sicherlich werden sich die Brünner auch in den nächsten Monaten immer wieder daran erinnern, wie sich die Studenten der philosophischen Fakultät am Montag, dem 20.November, im Hof der Fakultät zu einer Protestkundgebung versammelt und den Streik ausgerufen hatten, wie am selben Nachmittag die erste Demonstration auf dem Svoboda-Platz stattgefunden, die Polizei die Zufahrtstraßen versperrt hatte und die Menschen bereit gewesen waren zu sterben; wie die Demonstratonen von Tag zu Tag größer und freier geworden waren und die Menschen eine Kette bis zu dem Gefängnis am Rande der Stadt gebildet hatten, in dem der junge Dissident Petr Cibulka eingesperrt war... Wenn man alle diese Berichte hört, muß man unwillkürlich auch an diejenigen denken, die abseits stehen und sich über diese Entwicklung nicht so recht freuen können.

Aschermittwoch in der

Parteizentrale

In dem Gebäude des Stadtkomitees der KPTsch, im Volksmund „Weißes Haus“ genannt, ist schon alles zum Umzug vorbereitet. Der Parteiapparat wird verkleinert, das große Gebäude der Öffentlichkeit zurückgegeben. Von den 150 Beschäftigten haben sich schon über 60 eine neue Stelle gesucht. Für die Zukunft rechnet man mit 20, höchstens 30 hauptamtlichen Mitarbeitern, je nachdem, wieviele Mitglieder der Partei treu bleiben und ob sie überhaupt überlebt. Das ist in diesen Tagen noch nicht deutlich zu sehen. „Es war ihr eigenes Verständnis von Parteiarbeit, das die Partei letztlich kaputt gemacht hat“, sagt mir ein jüngerer Referent. „Aber man muß zwischen dem Apparat und den einfachen Mitgliedern unterscheiden.“ Das tun übrigens auch die Menschen an ihren Arbeitsplätzen und in den Bürgerforen. Die Parteizeitung 'Rude pravo‘ schreibt inzwischen zum Thema Erneuerung der Partei: zum wievielten Male schon? War nicht auch die Säuberungswelle des Jahres 1970 als Erneuerung ausgegeben worden?

Der Stacheldraht ist zwar noch da, aber er weckt keine Angst mehr. Bald wird ein Fußgängerübergang Schaffa und das Nachbardorf Langau auf der österreichischen Seite verbinden. In der Vorweihnachtszeit hatten die österreichischen Dörfer ihre mährischen Nachbarn zu Besuch eingeladen. Jetzt waren die Tschechen an der Reihe. „Aber was bieten wir ihnen an?“, fragten sie sich.

Um die Jahrhundertwende war Schaffa das schönste Dorf in der Gegend gewesen, ein Marktfleckchen. Ungefähr 500 deutsche Bauern, ein paar tschechische Tagelöhner und 500 Juden hatten hier nebeneinander, jedoch in zwei voneinander getrennten Siedlungen gelebt. Vor dem Ersten Weltkrieg waren viele Juden nach Wien gezogen. Zur Sommerfrische kehrten sie aber alle Jahre ins Dorf zurück. Die Gründung der Tschechoslowakischen Republik trennte Schaffa 1918 von seinem österreichischen Umland und den dortigen Absatzmärkten. Armut zog ein und mit ihr auch Haß gegen die Tschechen. Nach dem Anschluß Österreichs 1938 wollten auch die Schaffaner „Heim ins Reich“. Ohne es zu wissen, hatten sie damit ihren Juden das Todesurteil geschrieben. Die letzten drei wurden 1943 abtransportiert. 1945 mußten auch die Deutschen gehen, die noch erhaltene Judengasse wurde erst dann abgerissen. Das Ende von Mitteleuropa: fast exemplarisch im Leben eines Dorfes vollzogen.

Ist Godot auch für Schaffa angekommen? Vorerst hat sich hier nur wenig verändert. Aber in die Versammlungen des Bürgerforums im Nachbardorf sind die Leute aus Schaffa doch gegangen. Erst mal nur zum Zuhören.

Die Autorin ist in der CSSR geboren und lebt seit 1969 als freie Schriftstellerin in Saarbrücken.