Verspielt der FDGB seine Millionen-Basis?

Heute beginnt der außerordentliche Kongreß der DDR-Gewerkschaft FDGB / Zur Debatte stehen vor allem eine neue Führung und eine neue Satzung / Nebenbei geht es auch noch ums Ganze / Etliche Initiativgruppen betreiben bereits die Gründung unabhängiger Gewerkschaften  ■  Von Anna Jonas

Berlin (taz) - Wenn heute die etwa 2.600 Delegierten zu ihrem außerordentlichen FDGB-Kongreß im Ostberliner Palast der Republik zusammenkommen, dann werden sie in der Tat über außerordentliche Dinge zu entscheiden haben. Angesagt sind Neuwahlen zum Vorstand und eine rigorose Änderung der Satzung. Zur Diskussion steht auch das Ferienwerk des FDGB, faktisch ein Reisemonopol und für die meisten DDR -BürgerInnen oft die einzige Möglichkeit, zu einem bezahlbaren Ferienplatz zu kommen. Ferner der Komplex Sozialversicherung, der dem FDGB untersteht. Außerdem soll der Entwurf eines Gewerkschaftsgesetzes auf den parlamentarischen Weg gebracht werden.

Dieses Mammutprogramm gesamtgewerkschaftlicher Dringlichkeitsmaßnahmen hat sich der FDGB durch 40 Jahre SED -Hörigkeit praktisch selbst auf die Tagesordnung geschaufelt. Viele Mitglieder haben den desolaten Zustand, der nach der Wende endlich öffentlich wurde, weitgehend ohnmächtig und gedemütigt hingenommen. Schon im Oktober letzten Jahres, also noch in den letzten Zügen des alten Regimes, hatten 330 Studenten der FDGB-Hochschule Bernau nach einem einwöchigen DDR-weiten Einsatz in Betrieben einen alarmierenden Bericht über die Lage an der Basis verfaßt. Kurz darauf wurden die Machenschaften des bis dahin absolutistisch herrschenden FDGB-Bosses Harry Tisch bekannt

-Korruption und verpraßte Gewerkschaftsgelder in unvorstellbarer Höhe -, doch schien all das zunächst weder ihn noch seinen offenbar zur Vergebung aller Sünden entschlossenen Vorstandstroß zu genieren. Am 2.November trat Harry Tisch, dem sein Vorstand noch drei Tage zuvor bei (wie man hört) nur zwei oder drei Gegenstimmen das Vertrauen ausgesprochen hatte, endlich zurück - doch seine Kumpane blieben.

Auf Zeitgewinn setzte zunächst auch die amtierende Nachfolgerin Annelies Kimmel. Statt sofortiger Offenlegung der obskuren FDGB-Geschäfte wurden erstmal „Arbeitssekretariate“ eingerichtet, in denen die Funktionäre aus dem altgedienten Apparat saßen und nichts taten, schließlich hatten sie genug Übung darin, Kontrolle auszuüben und ihr zu entgehen.

Tisch wanderte am 4.Dezember in U-Haft. Landauf, landab wurde die Bevölkerung von Nachrichten über weitere Verhaftungen schockiert. Bis Anfang Dezember hatten über 800.000 GewerkschafterInnen ihren Austritt aus dem FDGB erklärt. Wegen des Verdachts des Amtsmißbrauchs mußte die amtierende Vorsitzende zurücktreten. Ein Komitee zur Vorbereitung des Kongresses wurde Mitte Dezember eingesetzt. Der eigentliche FDGB-Apparat war und blieb erstarrt und führte nicht mehr, womit die ausgeklügelten, ausschließlich von oben nach unten beschickten Befehlsketten gerissen waren.

Auf dem in diesen ganzen Monaten einzigen landesweiten Basistreffen, zu dem die FDGB-Hochschule Bernau für Mitte Januar aus eigener Initiative geladen hatte, fragte ein aufgeregter Textilarbeiter aus Plauen: „Ich habe fünf Jahre lang den Arm gehoben, was soll ich denn jetzt machen?“ „Erstmal zurücktreten!“ riet ihm einer. Darauf war der Mann nach fünfjähriger Tätigkeit in der betrieblichen Gewerkschaftsleitung nicht gekommen.

Die 9,6-Millionen-Basis blieb sich selbst überlassen. Eine Woche vor Kongreßbeginn beklagte denn auch der Vorsitzende einer Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) aus Zwickau im FDGB -Organ 'Tribüne‘: „So bereiten diese Wendehälse ihren Kongreß in alter Manier und bekanntem Geist vor. Die Satzung zeigt uns, daß man Abgewirtschaftetes erhalten will.“

Dafür spricht, daß zum Beispiel der Zentralvorstand der IG Bergbau-Energie ganz ungeniert die „Wahl der Delegierten“ zum Kongreß auf die Tagesordnung seiner Vorstandstagung gesetzt und seine Wahl damit wohl selbst in die Hand genommen hat. Ein Delegierter wollte von einem amtierenden Funktionär wissen, ob er die mit KollegInnen erarbeiteten Änderungsvorschläge zur betrieblichen Mitbestimmung auf dem Kongreß einbringen könne. Der Funktionär ermunterte ihn ausdrücklich dazu und wies mit keinem Wort darauf hin, daß die Antragsfrist schon vier Tage abgelaufen war. Taktik oder Dummheit? Für manche ist das immer noch die Frage.

Bei solchen Versammlungen läßt sich aber sowieso nur noch blicken, wer immer noch an die Reformfähigkeit des FDGB glaubt oder keine Alternative sieht. Die Aktiveren unter den GewerkschafterInnen haben inzwischen die stets geforderte und so lange praktizierte Disziplin verlassen. In immer mehr Betrieben der Republik haben die Belegschaften einfach Betriebsräte gewählt, von denen sie sich eine wirksamere Vertretung erhoffen als von den diskreditierten, im alten Denken und Handeln erstarrten Funktionären. Die FDGB -Führung, assistiert von namhaften DGB-KollegInnen, warnt zwar unermüdlich davor, Betriebsrat gegen BGL leichtfertig zu tauschen, weil deren Mitbestimmungsrechte doch erheblich größer seien und damit Positionen preisgegeben würden.Auch wenn Zahlen nicht vorliegen, steht mittlerweile fest:Ein nicht unerheblicher Teil der FDGB-Basis scheint nun endgültig genug von solchen Führungsappellen zu haben und hat Fakten geschaffen.

Völlig ausgeklinkt und auf ganz anderen Wegen außerhalb des FDGB befinden sich unterdessen immer mehr Initiativen für Unabhängige Gewerkschaften, von denen einige den neuen Parteien wie „Vereinigte Linke“ oder „Die Nelken“ nahestehen. Beim Komitee „Aufbruch 90“ heißt es dazu kurz und bündig: „Die Ruhe im FDGB zwingt uns dazu.“

Das politische Spektrum dieser Initiativgruppen reicht von marxistischen über trotzkistische bis zu christlichen Ansätzen. Gemeinsam ist ihnen der Wille zur radikalen demokratischen Erneuerung gewerkschaftlicher Strukturen. Und diese Möglichkeit sehen auch die, die sich eindeutig für eine sozialistische Gesellschaftsordnung aussprechen, offensichtlich nurmehr außerhalb des abgewirtschafteten FDGB.

„Aktionseinheit“ für starke Einheitsgewerkschaften ist von diesen Gruppen kaum noch zu erwarten und wird von den meisten als spröde Krücke zum Machterhalt interpretiert. Zur Überraschung und zum Ärger mancher wird aber eine andere, eine gesamtdeutsche „Aktionseinheit“ längst unverhohlen praktiziert: Die DGB-Gewerkschaften empfehlen sich und ihre Strukturen qua Rat und Tat wärmstens zur Übernahme. Sie setzen dabei wohl auf das Prinzip „Umerziehung der Funktionäre“.

Schon seit Wochen ist zu hören: Dies ist ein „Schicksalskongreß!“ Das Organisationskomitee verautbarte fünf Tage vor Kongreßbeginn: „Die bisherigen Vorstellungen zur Wirtschaftsreform sind ein Generalangriff auf die Mitbestimmungsrechte“ und forderte von der Regierung Modrow, bis zur Rechtswirksamkeit neuer Gesetze die volle Gültigkeit des Arbeitsgesetzbuches zu garantieren und das Gewerkschaftsgesetz bis Ende März zu verabschieden.

Das sind deutliche Worte. Nicht nur FDGB-Aussteiger vermuten dahinter eine ihnen unangenehm bekannte Taktik: Ein Generalangriff auf die eigene Regierung soll die allseits als zwingend erachtete Unabhängigkeit des gewendeten FDGB von Staat und Parteien demonstrieren und mit Wortgetümmel von den eigenen Problemen ablenken. Aber nicht nur die Kongreß-Delegierten, sondern alle arbeitenden Menschen in der DDR sind an der Abstimmung darüber beteiligt, wie sie ihre gesellschaftliche und gewerkschaftliche Zukunft haben wollen - notfalls mit den Füßen.