Gorbatschow resigniert: Einheit unvermeidlich

■ Kremlchef bei Modrows Besuch: „Vereinigung der Deutschen wird von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen“ / Gysi: Ich bin nicht gegen Einheit

Berlin (dpa/ap/taz) - Der Drang der DDR-BürgerInnen nach Westen scheint nicht mehr zu bremsen: Angesichts der immer massiver werdenden Forderungen nach „Wiedervereinigung“, „Einheit“ oder auch „Neuvereinigung“ haben jetzt fast zeitgleich sowohl die sowjetische Führung als auch die SED -PDS ihre bisherigen Positionen zur deutschen Frage geräumt.

„Die Vereinigung der Deutschen werde niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen“, erklärte der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow gestern anläßlich des Besuchs von DDR-Ministerpräsident Modrow in Moskau. Gorbatschow: „Wenn wir gesagt haben, die Geschichte wird entscheiden - und ich habe das viele Male gesagt -, dann wird es auch so sein. Ich glaube, das sie (die Geschichte) bereits ihre Korrekturen einbringt.“ Eine Entscheidung bedürfe jedoch sorgfältiger Prüfung und dürfe nicht auf der Straße gefällt werden. Laut Gorbatschow muß, ausgehend von der Existenz zweier deutscher Staaten, der Verantwortung der vier Mächte für Deutschland insgesamt und dem europäischen Einigungsprozeß, ein koordinierter und aufeinander abgestimmter Prozeß stattfinden, der eines „analytischen Herangehens bedarf“.

Gorbatschow hatte gestern Hans Modrow empfangen, der ihm „Vorschläge zu Fragen der Vereinigung beider deutscher Staaten“ vortrug. In einer anschließenden Pressekonferenz sagte Modrow zu seinem Konzept: „Wir müssen die Beziehungen zwischen den deutschen Staaten zielstrebig ausbauen, die Verantwortungsgemeinschaft durch eine Vertragsgemeinschaft ersetzen und diesen Weg auch in einer Konföderation weiter verfolgen.“ Er sei sich mit Gorbatschow einig, daß sonst das Aufkeimen nationalistischer Stimmungen die Lage außer Kontrolle bringen könnte und damit die Ängste der deutschen Nachbarn wüchsen.

Offenbar aufgrund derselben Überlegungen hat nun auch die Parteispitze der SED-PDS ihr Festhalten an der Eigenständigkeit der DDR zur Disposition gestellt. In einer gestern bekanntgewordenen Erklärung bekennt sich die Partei nun zur „Gemeinsamkeit der deutschen Nation und der beiden deutschen Staaten, die einhergeht mit der Einigung Europas und wirksam zu ihr beiträgt“. Gegenüber der 'Bild'-Zeitung hatte Parteichef Gysi bereits erläutert, wie diese neue Parole zu verstehen ist. Da der Prozeß nicht mehr aufzuhalten sei, ginge es jetzt nicht mehr um das Ob, sondern das Wie. „Das, was jetzt passiert, ist mir zu schnell und zu chaotisch. Man läßt den Menschen nur die Wahl zwischen Hertie und Horten. Das kann nicht gutgehen. Man verneint die eigenständige Leistung der DDR und versucht dem Volk das Genick zu brechen, weil man sagt, das Volk war 40 Jahre dämlich und dumm.“

Ergänzend dazu sagte SED-Reformer Andre Brie: „Die SED-PDS ist im Moment die einzige Kraft im Lande, die unabhängig von der Volksstimmung handeln kann. Wir müssen die Vernunft ins Spiel bringen.“ Dazu gehört, daß die deutsche Einheit nur in einem europäischen Rahmen möglich ist. Gysi: „Ich will kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland.“ Fortsetzung auf Seite 2

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Aus den Äußerungen Gorbatschows geht bislang nicht hervor, wie er die sowjetischen Sicherheitsinteressen in diesem Prozeß gewährleistet sehen will. Verschiedene Sprecher der CDU/CSU haben dagegen schon probate Vorschläge an der Hand. Da das westliche Bündnis bislang als Stabilitätsfaktor gewirkt habe - so die außenpolitische Sprecherin der CSU, Michaela Geiger - sei es nur folgerichtig, daß ein Zusammenwachsen beider deutscher Staaten nur auf dem festen Boden der Nato-Mitgliedschaft möglich sei. Für den Übergang sei vorstellbar, daß auf jetzigem DDR-Territorium keine

Nato-Truppen stationiert würden oder vielleicht sogar ein begrenztes Kontigent sowjetischer Truppen in der DDR verbleiben könnte. Ähnlich äußerte sich auch Dregger und der Staatssekretär im Verteidigungsministerium Wimmer, die allesamt die Option eines neutralistischen Deutschlands ausschlossen. Wimmer hält eine politische Einheit Deutschlands unter Beibehaltung des Nato-Vertragsgebiets für denkbar. Gerade wegen der revolutionären politischen Veränderungen im Warschauer Pakt müsse Moskau an dem Fortbestehen der Nato interessiert sein, deren Führungsmacht garantieren könne, daß der Westen aus den Neuerungen in Europa keine einseitigen Vorteile zieht.

JG