Vereinigungswut

Gorbatschows Stellungnahme sorgt für erneuten Dammbruch  ■ K O M M E N T A R E

Fälschungen können Geschichte machen. Berühmtes Beispiel ist die Emser Depesche, in der Kanzler Bismarck seinen schwammigen Kaiser so provokant zurechtredigierte, daß die Franzosen Deutschland den Krieg erklärten. Derart dramatische Folgen hat die Depesche über Gorbatschows Rücktrittsabsichten sicher nicht, die der US-Kabelsender am Dienstag durchgab - außer einem kleinen Börsenbeben scheint nicht viel gewesen. Und doch hat diese Nachricht ihre Funktion, obwohl sie nichts anderes tat, als ein Grummeln aus dem Kreml - der Moskau-Korrespondent des ZDF Dienstag abend auf die Frage nach der Lage: „In der KPdSU meinen viele, Gorbatschow sei zuviel Staatspräsident und zuwenig Generalsekretär“ - von der Meinungsäußerung zum harten Fakt zurechtzuredigieren. Nicht nur die Wirtschaft, auch Politik und Geschichte sind zu einem Großteil Psychologie, und in dieser Hinsicht tat die Stimmungsdusche „Rücktritt“ Wirkung

-just in dem Moment, in dem Gorbatschow sein prinzipielles Okay zur Erledigung der deutschen Frage gegeben hat, scheint sie offener den je.

Das Weiße Haus konnte vor lauter Überraschung auf die News aus dem Kreml gar nicht antworten, die Amerikaner hatten klargemacht, daß für sie eine deutsch-deutsche Liaison nur unter dem Dach der Nato in Frage kommt - und jetzt soll Gorbatschow dazu seinen Segen gegeben haben?! Man erbat sich Bedenkzeit. In der Bundesrepublik hingegen sorgte das Jawort aus dem Kreml erneut für einen spontanen Schub teutonischen Jubels - Bedenken kennt man keine mehr, wenn es um „Deutschland“ geht, und auch keine Geduld. Wer zur Langsamkeit mahnt (wie Eli Wiesel), wird gefälligst auf die Wiedergutmachungsmilliarden verwiesen, wer auf „Europa 1992“ besteht, muß sich über den Vorrang des Nationalen belehren lassen. Nicht mit kleinen Schritten voran, sondern mit großen in die Geschichte eingehen, ist die aktuelle Parole politischen Handelns. Die deutschen Königskinder drängt es so massiv zur Vereinigung, daß jedes Kondom, jede Sicherheitsvorkehrung als furchtbare Zeitverschwendung angesehen wird.

Dabei mahnt der Fake von CNN, wie es ganz schnell aussehen könnte: Hinter den Politikern mit ihren großen Schritten stehen die bleiernen Militärs - und die lassen schon aus notorischer Paranoia ihre schweren Blöcke nicht einfach so dahinschmelzen. Dem Staatspräsidenten Gorbatschow stehen nicht nur die unbewältigen ökonomischen Probleme bis zum Hals, sondern auch die Ansprüche der Roten Armee. Wenn es alsbald also wirklich zu einem Rücktritt kommen sollte, dann nicht allein aus wirtschaftlichen, sondern aus militärischen Gründen. Von „Abrüstung in Europa“ kann denn auch aktuell (siehe Großbritannien) derzeit gar keine Rede sein. Verantwortlich dafür ist nicht die Aggression der Westeuropäer, sondern die Vereinigungswut der Deutschen.

Mathias Bröckers