Sonderzug nach Deutschland?

Plädoyer wider eine Neuauflage des Nationalstaatsgedankens  ■ D E B A T T E

Die Begeisterung, mit der deutsche Sozialdemokraten das vermeintliche Stigma, „vaterlandslose Gesellen“ zu sein, in Sternstunden deutscher Geschichte abwerfen, hat Tradition: Es waren immer nur intellektuelle Minderheiten, die der nationalen Euphorie - etwa der sozialdemokratischen Bewilligung der Kriegsanleihen 1914 - ihre Absage erteilten. Endlich wieder Mehrheit sein! - so sollen 1990 das rote Thüringen und Sachsen (zunächst nur indirekt) den chronischen Verfall der linken Volkspartei im westlichen deutschen Rest auffangen. Ehe sie sich's versahen, waren die protestantischen Pfarrer und Idealisten, die sich zunächst aus gutem Grund - denn sie hatten in ihrem Land Bürgermut gezeigt, und nicht die westlichen Sozis - „SPD“ genannt hatten, neuvereinigt und umgetauft. Mit dem eingeführten label SPD könnnen die Wahlkampfmanager im Ollenhauer-Haus darauf spekulieren, die Konkursmasse der SED -PDS zu beerben. Schon werden auch die Testamentsverwalter gerufen (wg. Parteivermögen in der neuen Heimat)...

Wenn es denn ein nationales Trauma gibt (wie Peter Brandt im 'Vorwärts‘ behauptet), die deutsche Linke hat sich schnell davon befreit - abgesehen von vaterlandslosen Splittergruppen, die noch von der „sanften Zweistaatlichkeit“ träumen mögen. Ein echtes Trauma gibt es offenbar eher bei den Nachbarstaaten des ehemaligen Deutschen Reiches - östlich von Oder/Neiße fürchtet man (nicht von Sozialdemokraten, aber von Deutschen, die ihr nationales Trauma abgelegt haben) um die völkerrechtliche Sicherheit der Grenze; westlich vom Rhein ein Wackeln auf dem Weg in den europäischen Bundesstaat. Und für Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sind vierzig Jahre deutsche Teilung nicht genug: „Wartet ab!“ mahnte er im Namen der millionenfachen Opfer (und wenigen Überlebenden) der vom deutschen Staatsvolk zu verantwortenden Massenvernichtungen des letzten gesamtdeutschen Krieges „Deutschland ist noch nicht bereit für einen solchen Wechsel. Und wir sind auch noch nicht bereit.“

Doch diese internationalen Bedenkenträger haben ihre Rechnung ohne die deutsche Linke gemacht. An den internationalen Fahrplänen von EuroCity wird sich der deutsch-deutsche Sonderzug nach Leipzig nicht zu richten haben, meinte Willy Brandt - hier ausnahmsweise mit Volker Rühe einer Meinung („Wir brauchen keine Zustimmung aus dem Ausland für unsere konföderativen Schritte“, 'Frankfurter Rundschau‘, 9.12.89). Der Meinungsführer der deutschen Linken, Rudolf Augstein, gesteht Elie Wiesel nur noch einen Betroffenenbonus zu - „Wer in seiner Familie von Auschwitz betroffen worden ist, muß Deutschland für immer hassen dürfen“ -, aber Elie Wiesel „mag uns denn doch erklären, warum in Jerusalem geschossen wird und in Berlin nicht. Das liegt nun nicht mehr an Adolf Hilter. (...) Ob die beiden deutschen Staaten zusammenfinden (müssen), liegt nicht so sehr an den Alliierten und nicht so sehr an den Juden. (...) Die Stunde Null, von uns allen so sehnlichst herbeigefürchtet, ist da“ ('Spiegel‘, 2/1990).

Selbstverständlich hat mein alter Freund und Genosse Peter Brandt nicht solche Stimmen und Stimmungen im Sinn, wenn er sich im 'Vorwärts‘ auf die Suche nach der verlorenen Zeit macht - irgendwo muß „in den nationalen Empfindungen der (deutschen) Volksmassen ein subversiver demokratischer Rest“ doch erhalten geblieben sein, scheint er zu meinen. Wo ein Friedensnobelpreisträger Willy ist, da dürfe auch ein Sonderweg nicht mehr verboten werden. Soll denn hundertfünfzig Jahre nach der am deutschen Staatsgeist zerschellten 1848er Revolution die Neuvereinigung „von unten“ endlich eine demokratisch legitimierte deutsche Staatsnation begründen?

Die gesamtdeutschen Melodien der Wiedervereiniger mit den Füßen und der Neuvereiniger im DDR-Wahlkampf hat, wie wir wissen, prosaischere Gründe: Eins zu zehn lautet der Umrechnungskurs von Mark zu Mark; das Wohlstandsgefälle bestimmt das Bewußtsein. Im Westen tauchen hinter dem gesamtdeutschen Wahlkampffieber schon die Akzente von bundesdeutschem Wohlstandschauvinismus gegenüber den ungebetenen Brüdern und Schwestern aus dem Osten auf. Doch nur wenige Politiker wagen es, vor der Wahl aus der gesamtdeutschen Versenkung aufzutauchen und dem Ausbluten der DDR mit Maßnahmen wirtschaftspolitischer Vernunft und sozialer Verantwortung zu begegnen.

Peter Brandt hat recht: „Nur aus hochgesteckten Zielen erwachsen große moralische Energien.“ Die Phantasielosigkeit einer deutschen Linken, der angesichts der zunehmenden Balkanisierung des Nationalitätenproblems in Mittel- und Osteuropa nur der Rückgriff auf die nationalen Utopien des 19.Jahrhunderts einfällt, gibt allerdings kaum Anlaß zu moralischer Euphorie. Welches gesellschafts-, friedens- und kulturpolitische Problem des ausgehenden zweiten Jahrtausends soll denn, bitteschön, durch die Renationalisierung der Staatspolitiken der Ersten Welt besser, gerechter, freier gelöst werden? Der europäische Einigungsprozeß, so hieß es vor kurzem noch aus sozialdemokratischem Munde, sei der einzige Horizont, der mit der Komplexität der Aufgaben von multinationaler Friedenserhaltung, grenzüberschreitender Umweltpolitik und eines zu schaffenden Raums europäischer Bürger- und sozialer Grundrechte zu vereinen sei. Einzig ein Europa der sozialen und ökologischen Vernunft könne auch in einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ (Willy Brandt) einen entwicklungspolitischen Lastenausgleich mit den von globalen, demographischen und Naturkatastrophen bedrohten Ländern der Dritten und Vierten Welt verwirklichen - über nationale und soziale Egoismen und Besitzstandswahrungen hinweg. Bietet aber nicht gerade der aktuelle Umbruch der gescheiterten sozialistischen Länder - neben einer akuten Gefahr der Renationalisierung der Politik von Kosovo bis Berg-Karabach - auch Chancen einer Vernetzung etwa der EG mit zu assoziierenden Volkswirtschaften Polens, der DDR, der CSSR usw., die zudem friedensstabilisierend wirken könnten? Was spricht dagegen, jetzt eine gesamteuropäische Umweltagentur in Angriff zu nehmen? Wieso soll eigentlich eine Ausweitung der europäischen Menschenrechtskonvention die Schaffung eines europäischen Bürgerrechts als längst fällig Institutionalisierung des KSZE-„Menschenrechtskorbs“

-solange warten, bis sich die Deutschen konföderiert, neu oder wiedervereinigt haben? Und was trägt eine Wiederauflage des Nationalstaatsgedankens zur zivilisatorischen und zivilisierenden Gestaltung des europäischen Umbruchs bei?

BRD und DDR stehen an der Schwelle zwischen dem veralteten Modell machtstaatlicher Souveränität, die sich auf fiktive nationale Kollektive aus Geist und Blut gründet, und einer republikanischen, auf Bürger- und Menschenrechte gegründeten „verfassungspatriotischen“ Staatsidee. Die Westbindung der BRD hat zudem die Entflechtung der staatlich Souveränität nach unten (durch den Föderalismus) erst möglich gemacht die von Kurt Schumacher, dem von der SPD exhumierten Denkmal der Stunde, weiland erbittert bekämpft wurde. In einem europäischen Haus wäre der innerstaatliche Föderalismus durch eine Abgabe nationaler Souveränitätsrechte an trans und überregionale Verträge und Institutionen (Europaparlament, Gerichtshof für europäisches Bürgerrecht, europäische Umweltbehörde usw.) zu ergänzen. All das erfordert nicht weniger, sondern mehr Abstimmung zwischen wandernden Völkern und Währungen, zwischen wechselnden Regierungen und Oppositionen. Ein Sonderzug nach Leipzig kann da nur Karambolagen produzieren.

Die deutsche Linke - und die SPD als ihre Volkspartei - mag im Wahlkampf den Mumm zu solchen unpopulären Wahrheiten verloren haben. Weltbürgerliche Linke werden sich dann eher an Realpolitikern der Vernunft orientieren - wie Hans -Dietrich Genscher oder Joschka Fischer.

Otto Kallscheuer

Dieser vom 'Vorwärts‘ bestellte und von der Redaktion angenommene Artikel wurde von der für das Mitgliedermagazin verantwortlichen „Politkommissarin“ Anke Fuchs mit Verweis auf die seit dem Berliner Parteitag geltende neue Generallinie der SPD kurzerhand gekippt.