Doppelmoral in Sachen Moral

■ Türkische Justiz mindert Strafmaß bei Vergewaltigung von Prostituierten / Sozialistische Partei und feministische Gruppen protestieren

Istanbul (taz) - Männer, die Prostituierte vergewaltigen, können in der Türkei mit milden Urteilen rechnen. Der Paragraph 438 des Strafgesetzbuches sieht bei Vergewaltigungen eine Minderung des Strafmaßes um 2/3 vor, falls das Opfer eine Prostituierte ist. Das Strafgericht Antalya hatte das Verfassungsgericht angerufen, um den Paragraphen für verfassungswiderig zu erklären, weil der Paragraph gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verstoße. Doch das Oberste Gericht wies jüngst das Anliegen des Strafgerichtes zurück. Ungeheuerliches verkündete das Gericht in der schriftlichen Urteilsverkündung: „Der Widerstand (gegen Vergewaltigung) durch eine Person, die Prostitution als Erwerbsquelle betreibt, ist zu recht vom Täter nicht ernst zu nehmen. Die Vergewaltigung einer sittsamen Frau fügt ihrer Ehre und gesellschaftlichen Stellung schweren Schaden zu. Demgegebenüber kann man nicht sagen, daß eine Frau, die Prostitution als Erwerbsquelle hat, gleichermaßen zu Schaden kommt.“ Mit einfacheren Worten drückt es der Rechtsanwalt Gökhan Livanellioglou aus, der die Täter vor dem Strafgericht Antalya verteidigt: „Schließlich kann man doch ein Mädchen aus sauberem Hause nicht mit einer Nutte gleichstellen.“

Doch in der Türkei brach ein Sturm öffentlicher Entrüstung nach dem Verfassungsgerichtsurteil aus. In Istanbul drangen Frauengruppen in das staatliche Bordell ein, um ihren Protest gegen das Urteil kundzutun. „An die sieben männlichen Richter“ ist das Flugblatt überschrieben: „Wir sind hier, um unseren Zorn gegen den Paragraphen 438 kundzutun. Wir protestieren, daß Männer und Staat uns spalten und fordern gleiche Bestrafung von Männergewalt.“ Doppelmoral hat die Feministin Stella Ovadia beim Staat ausgemacht, denn die Bordelle sind staatlich lizensiert. „Wenn es darum geht, die Steuern abzukassieren, erkennen sie die Prostitution als Beruf an. Und dann bestrafen sie die Frauen wegen ihres Berufes.“ Rücktritt der verfluchten Verfassungsrichter fordern die Frauen: Mit Steuergeldern der Prostitutierten werden satte Richtergehälter mitfinanziert.

Die Sozialistische Partei, die Grünen, der Verein für Menschenrechte und verschiedene feministische Gruppen riefen zu einer Protestkundgebung im Bordell von Izmir auf. Die 46 DemonstratInnen im Bordell wurden wegen „Durchführung einer illegalen Kundgebung“ festgenommen und zwei Tage in Polizeihaft gehalten. Auf den Märkten der südöstlichen Stadt Adana sammeln Frauen Unterschriften gegen das Richterurteil. Selbst in den Bordellen provinzieller Kleinstädte regte sich Protest. Die Sozialistische Partei rief die Prostitutierten des Landes zu einem Generalstreik auf.

Das Urteil ist auch im Verfassungsgericht umstritten. Der Paragraph 438 verletze „Menschenrechte und die Menschenwürde“, stellen vier Verfassungrichter fest, die in einem Minderheitenvotum gegen das Gesetz Stellung beziehen.

Das Urteil des Verfassungsgerichtes ist kein Ausrutscher. Es wimmelt in dem türkischen Strafrecht von frauenfeindlichen Paragraphen. Ehefrauen, die beim Ehebruch erwischt werden, müssen zuweilen Monate im Gefängnis verbringen. Bei Männern wird Ehebruch von den Gerichten erst dann ernst genommen, wenn eine langfristige Beziehung zu einer Frau bestand. Zweierlei Maß auch bei Entführungen. Die Entführung verheirateter Frauen wird härter bestraft als die Entführung von Mädchen. Kein Wunder: In der herrschenden Ideologie ist die verheiratete Frau Eigentum des Mannes. Die Diskriminierung geht so weit, daß staatliche Krankenhäuser bei Abtreibungen die Erlaubnis des Ehemannes einholen.

Bereits zwei Jahre zuvor hatten türkische Frauengruppen eine Kampagne gegen ein Gerichtsurteil gestartet. Ein Richter im anatolischen Cankiri hatte die Scheidungsklage einer schwangeren Frau, die von ihrem Mann geschlagen wurde, unter Berufung auf ein altes Sprichwort abgewiesen: „Du sollst es daran nicht fehlen lassen, den Rücken der Frau zu schlagen und ihren Bauch zu befruchten.“ Das Verfassungsgerichtsurteil, daß Vergewaltigern Strafminderung zusichert, ist ein vorläufiger Höhepunkt sexistischer Justiz.

Da das Verfassungsgerichtsurteil endgültig ist, bemühen sich Parlamentarier, per Gesetz Abhilfe zu schaffen. Der Abgeordnete Faik Tarimcioglu reichte einen Gesetzentwurf ein, um den Paragraphen 438 ersatzlos zu streichen. Die juristische Kommission, die im Auftrag der Regierung eine Strafrechtsreform ausarbeitet, sprach sich gegen das Fortbestehen des Paragraphen aus. Doch die Frauen haben kein Vertrauen in die Herren Juristen. Für den 11.Februar ist eine Demonstration in Istanbul angekündigt. Und die Prostituierte Z.A. hat eine pragmatische Lösung gefunden: „Wenn uns die Gesetze nicht schützen, müssen wir eben selbst zur Waffe greifen.“

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