Gorbatschow auf Rücktrittskurs ?

■ Erneute Spekulationen um Gorbatschows Verzicht auf den Parteivorsitz / Doch ist keine Alternative zum Zentristen Gorbatschow in Sicht / Sein Image ist innenpolitisch zunehmend angeschlagen / Nur im Westen strahlte bislang sein Glorienschein ungetrübt

Berlin (taz) - Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen erzittern die Börsen von Tokio bis New York. Anlaß, damals wie heute, sind Spekulationen um einen möglichen Rücktritt des Generalsekretärs der KPdSU, Michael Gorbatschow, von seinem Amt als Parteichef. Übermittler dieser Hiobsbotschaft waren in beiden Fällen die Medien der westlichen Welt. Mit Gorbatschow fiele für sie auch ein Garant der Umgestaltung, die Sowjetunion würde geradewegs wieder in das Dunkel der Stalinzeit verfallen. Es waren unsere Medien, die ihn zum Pantokrator stilisierten und ihn so mit einem Unfehlbarkeitsdogma ausstatteten. Die sowjetische Bevölkerung sah die Person des Staatsoberhauptes schon seit sehr langem wesentlich kritischer.

Handelte es sich bei Gorbatschows Rücktrittsandrohung im Dezember um eine rhetorische Replik, mit der er innerparteilichen Kritikern antwortete und sich so seiner unbetrittenen Führungsrolle versicherte, sind es diesmal andere Kreise, die das Gerücht lancieren. Die Pariser Zeitung 'Le Monde‘ veröffentlichte gestern ein Memorandum, in dem nicht weiter bezeichnete Berater Gorbatschow drängen, mit dem konservativen Teil der Partei zu brechen. Die Taktik, Konservative und Radikale auf gleiche Distanz zu halten, zeichne sich nicht aus. Zuvor meldete der amerikanische Nachrichtensender CNN mit Berufung auf „gewöhnlich gutinformierte Quellen aus der Parteihierarchie“ die Rücktrittsbereitschaft Gorbatschows, die dieser wenige Stunden später verärgert dementierte: Niemand habe dergleichen angekündigt, er selbst schon gar nicht.

In der Tat scheint Gorbatschows Glorienschein in den letzten Monaten an Leuchtkraft zu verlieren. Sein erbostes, zum Teil unkontrolliertes Auftreten bei seinem Besuch in Litauen machte deutlich, daß er selbst noch nicht mit den demokratischen Gepflogenheiten vertraut ist. Und es zeigte auch, daß er die Ernsthaftigkeit, mit der die Balten die Sezession von der UdSSR betreiben, trotz vehementer Anzeichen nicht erkannt hat. Ähnlich steht es um die Problematik in den krisengebieten Aserbaidschans und Armenien. Sie hat ihn zu Beginn schlichtweg nicht interessiert. In der Frage um die in Aserbaidschan gelegene Enklave Nagorny Karabach wollte er keinen Präzedenzfall schaffen. Dies hätte geheißen, eine Revision der stalinschen Grenzen vorzunehmen. Und in Aserbaidschan schritt er erst dann ein, als die Drohung der Republik, sich mit Waffengewalt aus der Föderation zu lösen, bereits zahlreiche Opfer gekostete hat. Machterhalt war dann das einzige Motiv für den militärischen Einmarsch. Die militärische Intervention hat seiner Position innerhalb der Partei und Reputation in der Bevölkerung Rußlands wohl weniger geschadet. In der Partei hat es andererseits Kräften wieder Auftrieb verliehen, die Gorbatschow zurückzudrängen versucht hat, den Militärs. Damit steht aber sein Verzicht auf die Leitung der Partei nicht automatisch auf der Tagesordnung. Immer noch gibt es keine Alternative zum zentristischen Kurs des Parteichefs. Zwar offenbart die innerparteiliche Diskussion zunehmend Risse, aber auf der konservativen Seite lassen sich bisher keine schlagfähigen Koalitionen oder Bündnisse erkennen. Es sind bestenfalls verbale Bündnisse des Unmuts. Mit der Neubesetzung seiner Führungsriege kurz vor den Wahlen zum Obersten Sowjet im letzten Frühjahr hat Gorbatschow zielsicher seine Position gefestigt. Ebensowenig konnten bisher die Versuche der radikalen Reformer um den Populisten Boris Jelzin eine Alternative anbieten. Die Wut der Bevölkerung über die miserablen Lebensverhältnisse konnte dessen Popularität zwar steigern, aber eine Alternative sieht in ihm nur ein kleinerer Teil der Sowjets. Wie schwierig es ist, die Bevölkerung hinter den Zielen der „interregionalen Deputiertengruppe“ zu formieren, zeigte Sacharows Aufruf vergangenen Dezember zum Streik gegen die Aufrechterhaltung des Artikel 6, der der Partei die Führungsrolle sichert. Es war ein Flop.

Im Festhalten an der Führungsrolle der Partei steckt auch Gorbatschows Überzeugung, daß sich die Krise nur durch die Partei überwinden läßt. Daher zunächst die Zentralisierung der Macht in der ersten Phase der Veränderung, um sie später zu dezentralisieren. Das kann jedoch nur dann gelingen, wenn die Macht in den Händen der Reformfreudigeren bleibt und nicht den Neostalinisten anheimfällt. Ein Verzicht auf die Parteiführung wäre ein offenes Eingeständnis des Scheiterns. Denn noch verfügt die Partei über die Schaltstellen der Macht, nicht der Staatsapparat. Ihre antireformerischen Strukturen können auch nur von innen her aufgebrochen werden. Von einer massenhaften Verankerung der Opposition in der Russischen Föderation, die der Partei Paroli bieten könnte, war bisher noch nichts zu sehen. Kein Anlaß zu Beunruhigung für die Broker an der Wall Street, zunächst.

Klaus Helge Donath