Nur russische Nationalisten blocken

Die Variante, die Michail Gorbatschow auf seiner Pressekonferenz am Montag ablehnte, daß die deutsche Wiedervereinigung „auf der Straße“ verhandelt würde - für sie besteht zumindest in Moskau nicht die geringste Gefahr. Seit vielen Jahren besteht in der Öffentlichkeit der Hauptstadt - vom Geschichtsprofessor bis zur Putzfrau Konsens darüber, daß eine „so kultivierte“ Nation wie die deutsche in einem einigen Staat leben muß. Und die mangelnde Empörung westdeutscher Linker über den Zustand der nationalen Spaltung rief nur Verwunderung hervor.

Angesichts des rapiden Zerfalls von Mittelosteuropa hat allein die russische Nationalbewegung - deren Mitglieder bisher kaum die internationale Expansion des Sozialismus befürworteten - ihre Probleme mit der deutschen Einigung. „Offiziell haben wir doch den Krieg gewonnen, und nun müssen wir uns fragen, wer ihn eigentlich verloren hat?“ fragte kürzlich ein Redner auf einem Meeting der chauvinistischen Pamjat-Bewegung.

Und auch die Emigrationswelle der Sowjetdeutschen wurde von dieser gelben Welle des Neides mit erfaßt: „Jetzt wollen sie sich dort ein schönes Leben machen und überlassen unsere Steppen den Muselmanen.“ Endlich haben die großrussischen Vaterländler mit der deutschen Frage eine Ablenkung von ihren Problemen im eigenen Lande gefunden, auf die sie keine Antwort wissen.

Die Stimmung im Lande ist gegenwärtig angesichts des Bürgerkrieges im Kaukasus und der möglichen Abspaltung der baltischen Sowjetrepubliken derart vom Gefühl des Unheimlichen beherrscht, daß außenpolitische Erwägungen ins dritte und vierte Glied gerückt sind. In diesem Moment haben Leute, die sich professionell mit der Außenpolitik befassen, größeren Spielraum bekommen denn je.

Die Mannschaften von Außenminister Schewardnadse und des Politbüroexperten für Außenpolitik, Alexander Jakowlew, gelten im Vergleich zu den politischen Verwaltern der Innenpolitik der Sowjetunion als weitaus progressiver. Sie stehen letztlich, so wird in Moskauer Parteikreisen vermutet, hinter Gorbatschows Deutschland-Statement vom Montag. „Sie lassen sich einfach von den Realitäten selbst leiten und in diesem Falle von den Fakten im Inneren der DDR“, sagte mir ein Mitglied der Bewegung „Demokratische Plattform“ auf dem 28.Parteitag. Doch er fügte sofort hinzu: „Das alles sind nur Vermutungen, denn innerhalb der Partei hat es weder Abstimmungen gegeben noch Referenden.“

Gestützt werden die Vermutungen von den Korrespondentenberichten der Regierungszeitung 'Iswestija‘ vom Dienstag. Unter der Überschrift „Wir haben keine Zeit zu verlieren“ heißt es dort aus Ost-Berlin: „Die wirtschaftliche Situation im Lande verschlechtert sich, und die soziale Spannung steigt täglich.“ Sollte Gorbatschows Erklärung also in erster Linie einen Hoffnungsschimmer für die DDR-Bürger ausstrahlen? Zumindest ebenso statthaft ist die Annahme, daß der Generalsekretär sich damit auf die Seite der oben genannten reformfreudigen Kräfte in Staat und Partei stellen wollte.

Das nächste ZK-Plenum im Februar ist die letzte Chance für die Sowjetführung, sich das Vertrauen des einfachen Mannes auf der Straße zurückzuerobern, den das ewige Taktieren Gorbatschows zwischen den Befürwortern radikalerer ökonomischer und politischer Reformen und den Hardlinern schon längst frustriert und enttäuscht hat. Eine der Alternativen, die hier im akademischen Sandkasten erwogen werden: Gorbatschow müßte sich auf den Posten des Staatspräsidenten beschränken, während Alexander Jakowlew das bestehende ZK auflöste. Ein provisorisches Komitee unter seiner Leitung müßte dann die Wahlen für den 28. Parteitag organisieren, auf dem sich die Partei neu formierte.

In Kreisen der Moskauer Intelligenz wird mit der deutschen Wiedervereinigung eine Gefahr für die schon recht nahe gerückte Utopie des gemeinsamen europäischen Hauses gesehen. Außer der national-chauvinistischen Reaktion in Rußland bestehe vor allem von Westeuropa her eine Gefahr der Abkehr von diesem Ziel. „Früher“, so erklärte mir neulich ein Geschichtsprofessor, „konnte man sich die Wiedervereinigung als Sieg einer der beiden Seiten vorstellen, also auch der östlichen Doktrin. Jetzt aber, wo sich alle osteuropäischen Länder umgestalten, muß man eine deutsche Wiedervereinigung im Rahmen dieses Prozesses sehen. Dabei muß man auch in Betracht ziehen, daß sich die Struktur Westeuropas ändert. Wenn früher die Bundesrepublik, Frankreich und England als gleichberechtigte ältere Geschwister in diesem Bündnis den Ton angaben, so sieht sich plötzlich ein Kranz von Nationen um einen einzigen Giganten geschart.“

Eine Bedrohung für die Sowjetunion sehen die Moskauer Intellektuellen in Verbindung mit dieser Umorientierung kaum. „Die alten Beziehungen zwischen den europäischen Mächten - zwischen Kriegsdrohungen und Entente-Bündnissen werden sich so nie wieder herstellen“, meint zuversichtlich ein Schriftsteller und Teilnehmer des Zweiten Weltkrieges.

Und: Eine Hoffnung für Europa ist nicht ausgeschlossen, „nur hängt sie im Moment nicht von uns ab, sondern allein von den Deutschen: ob sie am Europa-Kurs trotz allem noch konsequent festhalten oder ob sie sich von einer Welle der nationalen Euphorie forttragen lassen“. „Allerdings“, wirft er ironisch ein, „könnte man schon fast annehmen, daß die Amerikaner eine Revolutionsverschwörung in Osteurpa angezettelt haben, weil ihnen die zeitliche Nähe eines gesamteuropäischen Hauses allzu bedrohlich wurde.“

Barbara Kerneck, Moskau