FDGB-Konkursmasse in Turbulenzen

■ Streit zwischen Basis und Apparat beim FDGB-Kongreß

Berlin (taz) - „Vor diesem Palast“, so Werner Peplowski zu Beginn seiner Ansprache, „stehen Tausende Kollegen mit der Forderung 'Kämpft um die Einheit der Gewerkschaft! Verzettelt euch nicht, Kollegen!'“ Der Vorsitzende des Vorbereitungsausschusses für den Außerordentlichen FDGB -Kongreß in Ost-Berlin hatte etwas übertrieben. Ein kleiner Spaziergang vor den Palast der Republik genügte, um festzustellen, daß dort nur einige gelangweilte Vopos als Parkwächter zugange waren.

Peplowskis dramatischer Appell kam jedoch nicht von ungefähr. Der Kongreß tagte noch keine Viertelstunde, da knallten bereits quer durch den Saal Gewerkschaftsbasis und Apparat aufeinander. Der Auslöser war der erste Satz der Geschäftsordnung: „Stimmberechtigt sind alle Delegierten mit beschließender Stimme.“ Dagegen sprach sich eine Dresdener Delegierte aus. Aktives und passives Wahlrecht sollten nur solche Delegierten haben, die von der Basis gewählt worden waren, nicht aber diejenigen, die nach alter Manier von den Kreis- und Bezirksvorständen und dem Zentralvorstand des FDGB ernannt worden waren. Wieviele das genau waren, ob zehn oder zwanzig Prozent, konnte nicht geklärt werden. Ein hitziger Streit entbrannte: Die einen verteidigten ihr Mandat, die anderen postulierten, nur wer das Mandat der „Basis“ habe, könne zu einer grundlegenden Erneuerung der Gewerkschaften beitragen.

Als die Abstimmung eine knappe Mehrheit für die Vertreter der Basis ergab, erreichte die Stimmung im Fortsetzung auf Seite 2

ergab, erreichte die Stimmung im Saal ihren Siedepunkt. Ganze Reihen von Delegierten - vornehmlich würdige ältere Herren in Anzug und Krawatte, aber auch manche jungen standen auf, um auszuziehen. Ein Präsidiumsmitglied, der Dresdener FDGB-Vorsitzende Achim Krusche, brüllte die absurde Drohung ins Mikrophon, er werde sich mit

seiner FDGB-Organisation abspalten und einen eigenen Gewerkschaftsbund zusammen mit den Leipzigern bilden.

In solchen Situationen pflegen Versammlungsleitungen die Sitzung zu unterbrechen, damit sich die Gemüter beruhigen und hinter den Kulissen eine Lösung ausgemauschelt werden kann. So auch beim FDGB. Es dauerte ziemlich lange, aber dann konnte als Ergebnis verkündet werden: Der ausgeflippte Dresdener FDGB-Vorsitzende entschuldigt sich, und jener Antrag, über den bereits entschieden worden war, wird - im Interesse eines „konstruktiven Verlaufs“ des Kongresses „zurückgezogen“.

Danach sprach Peplowski. Daß der FDGB in einer schweren Krise steckt, klang in seiner Rede nur vorsichtig an: In den letzten zwölf Monaten hat der FDGB fast eine Million Mitglieder verloren, Abwanderer eingeschlossen. Noch 8.629.967 Mitglieder zählten die DDR-Ge

werkschaften in der vergangenen Woche. Doch viele von ihnen warten nur den Gewerkschaftskongreß ab, beginnen gleichzeitig gewerkschaftsunabhängige Betriebsräte zu bilden.

Die im Vergleich mit der SED immer noch geringen Verluste des FDGB sind wohl darauf zurückzuführen, daß die Furcht weit verbreitet ist, die DDR könne - so Peplowski - zum „Billiglohnland Europas“ werden. Notwendig seien jetzt „unabhängige Gewerkschaften als Gegenmacht“, da eine Wirtschaftsreform bevorsteht und ausländisches Kapital ins Land kommt, Rationalisierung und Arbeitslosigkeit drohen. Zugleich machte er deutlich, daß der FDGB nicht mehr länger als verlängerter Arm der Regierung zu handeln bereit ist. Scharf die Kritik an der bereits begonnenen Beschneidung gewerkschaftlicher Rechte (die unter dem alten Regime nur formal beachtet wurden, jetzt aber ernsthaft eingeklagt werden).

Wichtigster Punkt dieses Kongresses, der heute zu Ende geht, soll die Beratung über ein Gewerkschaftsgesetz werden, das die FDGB-Fraktion in der Volkskammer noch in diesen Wochen einbringen will - schließlich sind dies die letzten Wochen, die sie in der höchsten Volksvertetung als Gewerkschaftsfraktion dabeisein wird. In diesem Gesetz sollen das Streikrecht und ein Verbot der Aussperrung verankert werden.

Walter Süß